Drei Morgensternlieder für Sopran und Klarinette (1929)
Werkverzeichnisnummer: 4201
1. Die Trichter (Allegro moderato)
2. Das Knie (Allegretto)
3. Das Nasobem (Staccatissimo)
Christian Morgenstern, der bayerische Dichter, der 1914 an Tuberkulose starb, gilt als einer der großen Humoristen deutscher Sprache. Aus seinen frühen Lyrikbänden, allen voran den Galgenliedern, hat sich so manches Gedicht bis heute im Kanon deutscher Literatur erhalten, etwa Der Trichter oder Das Nasobem. Dies hängt auch mit dem verlegerischen Erfolg dieser so verquer scheinenden Verse zusammen: Die Galgenlieder, 1905 im Verlag Bruno Cassirer in Berlin erschienen, waren bereits 1929 hunderttausendmal, ein Jahrzehnt später fast dreihunderttausendmal verkauft worden.
Im Ursprung waren diese Gedichte – überspitzt gesagt – Stammtischkalauer, wie Morgenstern in einem Brief 1910 berichtete: „Die ersten, noch den neunziger Jahren entstammenden Galgenlieder entstanden für einen lustigen Kreis, der sich auf einem Ausflug nach Werder bei Potsdam, allwo noch heute ein sogenannter ‚Galgenberg‘ gezeigt wird, wie das so die Laune gibt, mit diesem Namen schmücken zu müssen meinte. Aus dem Namen erwuchs alsdann das Weitere.“
1895 begann der lustige Kreis als skurriler Stammtisch namens „Galgenbrüder“ in Berlin seine Runden zu drehen, ausgestattet mit morbiden Utensilien und einen eigenen Jargon kultivierend. Das Essen nannte man „Henkersmahlzeit“, den Kellner „Abdecker“, die Kellnerin wurde zur „Henkersmaid“ und die Stammtischglocke zum „Armensünderglöckchen“. Morgenstern lieferte den Zusammenkünften der „Galgenbrüderschaft“ den dichterischen Zündstoff, sein Freund Julius Hirschfeld die Kompositionen, nach denen die Verse regelrecht „zersungen“ wurden. Nach einem Jahr intensivster Auskostung des morbiden Rituals löste sich der Bund im Juni 1896 wieder auf; neun Jahre später feierte er in den Galgenliedern seine Wiederauferstehung.
Im Vorwort zu dieser Blütenlese der Galgenbrüder-Lyrik beschwört der Dichter noch einmal die Atmosphäre des damaligen Kreises und ordnet ihn in ein ironisches Zeitpanorama ein:
„Wir leben in einer bewegten Zeit. Ein Tag folgt dem andern, und neues Leben sproßt aus den Ruinen. Auf moralischem, medizinischem, poetischem, patriotischem Gebiete, in Handel, Wandel, Kunst und Wissenschaft, allüberall dieselbe Erscheinung, dieselbe Tendenz. Symptom reiht sich an Symptom. Und solch ein Symptom war auch die Idee, welche eines schönen Tages des hinverflossenen Jahrhundertendes acht junge Männer, festentschlossen, dem feindlichen Moment wo immer im Sinne der Zeit und auch wieder nicht im Sinne der Zeit … die Singspielhalle sozusagen ihres Humors entgegenzustellen, zusammenschmiedete. Ein sonderbarer Kult vereinte sie. Zuvörderst wird das Licht verdreht, ein schwarzes Tuch dann aus dem Korb und übern Tisch gezogen, mit Schauderzeichen reich phosphoresziert, und bleich ein einzig Wachs inmitten der Idee des Galgenbergs entnommner freudig-schrecklicher Symbole.“
Bedenkt man, dass die Galgenlieder schon seinerzeit am Stammtisch gesungen wurden, verwundert es nicht, dass sie immer wieder auch Komponisten in ihren Bann zogen. 1929 wandte sich ihnen der damals in Frankfurt lebende und lehrende Ungar Mátyás Seiber zu. In Budapest geboren und aufgewachsen, studierte er dort Cello und Komposition bei Zoltán Kodály, reiste in den „Goldenen Zwanzigern“ als Cellist eines Schiffsorchesters nach Amerika und ließ sich 1927 in Frankfurt am Main nieder, wo er an Dr. Hoch’s Konservatorium die erste deutsche Jazz-Klasse ins Leben rief. Als Leiter dieses rasch berühmten Instituts, als Dirigent und Cellist lebte er bis 1933 am Main, bevor ihn die Machtergreifung der NSDAP zur Flucht zwang. Über Ungarn wanderte er nach England aus, wo er als Filmkomponist und Chorleiter, Dirigent und Verfasser von Instrumentalschulen, vor allem aber als einer der großen Kompositionslehrer auf der Insel galt.
Seine Morgensternlieder für Sopran und Klarinette aus den Frankfurter Jahren atmen ganz den Zeitgeist der späten Zwanziger: Barocke Koloraturen werden im Lied von den zwei Trichtern ironisch gebrochen und führen unweigerlich ins Nichts. Die Existenz des einsamen Knies spiegelt sich in den grotesken Sprüngen der Klarinette wider. Staccatissimo schreitet das Nasobem einher – „es steht noch nicht im Brehm, es steht noch nicht im Meyer, und auch im
Brockhaus nicht!“