Streichquartett Nr. 2 F-Dur, op. 22
Werkverzeichnisnummer: 4177
1. Adagio – Moderato assai
2. Scherzo. Allegro giusto
3. Andante ma non tanto
4. Finale. Allegro non molto
„Ich sah Tschaikowsky erstmals 1871 in einer Harmonielehrestunde, die er am Moskauer Konservatorium erteilte. Er war ein nervöser, flinker Mann, nicht sehr groß. Er stürmte in den Unterrichtsraum, die Hände auf dem Rücken, den Kopf leicht vornübergebeugt, und blickte mit starrem und, wie es schien, strengem Blick in den grauen Augen genau geradeaus. Pjotr Iljitsch pflegte, sich sodann ans Klavier zu setzen, unsere Übungen durchzuspielen und … mit raschen und scharfen Strichen unsere Quint- und Oktavparallelen einzuklammern.“ Diese authentische Beschreibung des jungen Tschaikowsky aus den Jahren seines 2. Streichquartetts verdanken wir dem Geiger Alexej Litwinow. Wie viele seiner Schüler am Konservatorium nahm auch er den kultivierten Mann Anfang 30 mit dem stechenden Blick mehr als strengen, aber sympathischen Theorielehrer denn als Komponisten wahr. Erst Ende 1873 sollte ihm mit der Konzertouvertüre Der Sturm eine Art Durchbruch auf den Konzertpodien gelingen. In der Euphorie dieses ersten Bekanntwerdens und der ersten aufsehenerregenden Rezensionen schrieb Tschaikowsky damals – in nur einer Januarnacht des Jahres 1874 – sein zweites Quartett in F-Dur.
Für die hohen satztechnischen Anforderungen des Streichquartetts war er, wie man an der beschriebenen Harmonielehrestunde erkennen kann, wohl gerüstet. In diesem Falle flog ihm aber auch die Inspiration förmlich zu: „Das habe ich am allerbesten gemacht. Kein anderes meiner Werke ist mir mit solcher Leichtigkeit zugefallen. Ich habe es sozusagen in einer einzigen Séance zustande gebracht.“ Die Uraufführung im März 1874 in Moskau wurde zum umjubelten Erfolg – trotz oder gerade wegen der spätromantischen Komplikationen, die dieses Quartett im Überfluss aufweist.
Für den ersten Satz holte sich Tschaikowsky Inspiration bei dem Komponisten, den er am meisten liebte: Mozart. Wie in dessen „Dissonanzenquartett“ auf eine düstere chromatische Einleitung ein taghelles Allegro folgt, so hat auch Tschaikowsky an den Anfang seines Quartetts eine mit Chromatik förmlich überladene Introduktion gestellt, die sich zum Allegro auflichtet. Zwar ist auch dessen Hauptthema noch harmonisch verschleiert, doch gewinnt es zunehmend an strahlender Kontur, und auch das Seitenthema bewegt sich in lichten Durregionen. Dem mitunter komplizierten Gewebe der Stimmen steht eine kleine Violinkadenz gegenüber. In der Coda verklingt der Satz in Synkopen und in zartem Pianissimo.
Das Scherzo ist ein Kabinettstück des ungekrönten Walzerkönigs Tschaikowsky. In schwebender Eleganz kommt sein Thema daher, nonchalant zwischen Sechs- und Neunachteltakt changierend, dabei im entlegenen Des-Dur angesiedelt. Von kleinen Atempausen durchsetzt wirkt diese Tanzmelodie zart tastend. Im A-Dur-Trio macht sie einer wesentlich robusteren Walzerweise auf der G-Saite der Violine Platz.
Das Andante ma non tanto hat Jean-Alexandre Ménétrier mit Recht als „einen der schönsten langsamen Sätze von Tschaikowsky“ gepriesen. Es handelt sich um einen ausgedehnten Klagegesang in f-Moll, quasi an das Adagio aus Beethovens Opus 59 Nr. 1 anknüpfend. Ihren intensivsten Aussdruck erreicht diese Klage im E-Dur-Mittelteil, wo die Melodie bis in höchste Lagen aufsteigt, die Dynamik sich bis zum Forte-Fortissimo steigert und Synkopen den Rhythmus in melodramatischer Weise verdichten. Ein Nachklang dieses Gefühlsausbruchs leitet im Pianissimo das poetische Ende dieses Satzes ein.
Das Finale gibt sich danach ungetrübter Daseinsfreude hin. Ausnahmsweise hat Tschaikowsky hier einmal den Kontrapunktiker in sich hervorgekehrt. Das robuste Hauptthema wird permanent in Imitationen durchgeführt und von einer Fuge gekrönt.