Brandenburgisches Konzert Nr. 1 F-Dur, BWV 1046
Werkverzeichnisnummer: 4176
1. Allegro
2. Adagio
3. Allegro
4. Menuet – Trio I – Menuet – Polacca – Menuet – Trio II – Menuet
2005
Concerts avec plusieurs instruments
Unendlich viel ist über Johann Sebastian Bachs Six Concerts avec plusieurs instruments (Sechs Konzerte mit mehreren Instrumenten) geschrieben worden, seit ihnen der Bachforscher Philipp Spitta den Beinamen „Brandenburgische Konzerte“ verlieh. Nicht schon zu Spittas Zeit, wo man die Trompete noch notgedrungen durch Klarinette und das Cembalo durch Klavier ersetzte, sondern erst in den 1930er Jahren fingen Orchester an, sich für diese Stücke zu interessieren. In den 1950er Jahren avancierten sie zu Lieblingsstücken der Kammerorchester – ein Maurice André brillierte im 2., ein Karl Richter im 5. Konzert. Ab den 1980er Jahren mehrten sich dann die Aufführungen auf historischem Instrumentarium – in alter Stimmung, mit Barockbögen und Darmsaiten, Naturhörnern und Traversflöte. Heute bestimmen diese Klänge der Bachzeit so umfassend das Hörbild der „Brandenburgischen“ – im Konzertsaal wie im Rundfunk und auf CD -, dass es fast schon erfrischend wirken mag, die Stücke wieder einmal auf „modernen“ Instrumenten zu hören.
In der delikaten, für jedes Konzert minutiös abgemischten Klangpalette Bachs wirken gewisse Farben per se „historisch“, weil sie im modernen Orchester kein Pendant haben: Blockflöten, Gamben und Cembalo. Doch auch die stahlbesaiteten Geigen heutiger Faktur, die Celli mit Stachel und die Böhmflöte mit Klappenmechanik können tief ins Wesen der Bachschen Vorstellung vom „Konzertieren“ eindringen, wenn sie zu Klangbalance, authentischen Tempi und sprechender Artikulation angehalten werden. Dies besorgte für unsere Aufführungen Reinhard Goebel: er richtete das Material ein, studierte die Konzerte mit den Stipendiatinnen und Stipendiaten der Villa Musica ein und vermittelte ihnen in der für ihn charakteristischen Bildhaftigkeit die Funktionsweise stilgerechten Barockmusizierens.
„Entwurf einer wohlbestallten Hofmusik“
Wie Bach in seiner Widmungsvorrede zur Originalpartitur berichtet, war es ein mehr beiläufiger Auftrag des Markgrafen Christian Ludwig von Brandenburg, der ihn veranlasste, einen Zyklus von sechs Konzerten 1721 nach Berlin zu senden. Was der Markgraf in dieser querformatigen Reinschrift von seltener Schönheit vorfand, war eine Art Musterbuch: zum einen ein Katalog der Möglichkeiten, die die brandneue Gattung des italienischen Concerto einem kunst- wie erfindungsreichen Compositeur offerierte, zum anderen ein Musterbuch der Besetzungsvielfalt, die eine gut eingerichtete Hofmusik um 1720 bot. In diesem Sinne sind die „Brandenburgischen Konzerte“ nichts anderes als Bachs „Entwurf einer wohl bestallten Hofmusik“ – so wie er neun Jahre später in Leipzig seine Forderungen an eine „wohl bestallte“ Kirchenmusik formulierte.
Gewöhnlich wurden Concerti in Stimmen übersandt, Bach aber schickte eine Partitur – von der Seitendisposition bis zum Phrasierungsdetail eine vollkommene Reinschrift. Offenkundig wollte er mit dieser Handschrift ein Exempel statuieren – ein Exemplum in Sachen Concerto. Er wollte das Genre „Konzert mit mehreren Soloinstrumenten“ musterhaft umreißen, wie es um 1720 allenthalben im Schwange war. Die Instrumente des gerade entstehenden spätbarocken Orchesters auf immer neue Weise zusammenzufügen, daran fanden die Herren Hofcompositeurs des Saeculums ein nicht enden wollendes Vergnügen – ob Heinichen in Dresden oder Fasch in Zerbst, Telemann in Frankfurt oder Graupner in Darmstadt. Im Concert avec plusieurs instruments fanden sie ein unerschöpfliches Medium für ihre Klangfantasie, das zugleich die rasant zunehmende Virtuosität der hoch spezialisierten Hofmusiker widerspiegelte.
Der „geänderte gusto“
Was die höfischen Spezialisten auf Oboe und Blockflöte, Geige und Bratsche, auf Traversflöte und Trompete zu leisten im Stande waren, auch das hat Bach in den „Brandenburgischen“ beschrieben – er war von diesem Phänomen eines „verwunderens-würdig geänderten gusto“, vom virtuosen Spezialistentum fasziniert. Dabei vergaß er auch besondere Instrumente nicht, die er selbst virtuos beherrschte und mit Vorliebe traktierte, neben Cembalo und Geige eben auch Bratsche und Cello oder „Violino piccolo“.
Bachs lebenslanges Interesse am Ausreizen instrumental-technischer Möglichkeiten kommt in den „Brandenburgischen“ nicht weniger eindrucksvoll zur Geltung als in den Solosonaten und -suiten für Geige und Cello. Nur blicken wir hier nicht auf monochrome Kupferstiche, sondern auf das vielfarbige Deckenfresko eines instrumentalen Parnass. Kein anderer Komponist des Spätbarock hat diesen Parnass so üppig drapiert wie Bach; kein zweiter hat in einer einzigen Sammlung von Concerti dermaßen virtuos mit den Bällen des höfischen Instrumentariums jongliert und zugleich die satztechnischen Möglichkeiten des Genres so enzyklopädisch ausgereizt wie er.
Dabei ging Bach von einer Art Ideal-Hofkapelle aus, einem Ensemble, wie man es nur an den exquisitesten Höfen, in Dresden und München, Darmstadt und Weißenfels, vorfand. Er selbst musste sich in Koethen, wo er 1717 bis 1723 Hofkapellmeister war, mit weniger begnügen. Es fehlten die Hörner, eine dritte Oboe, ein wahrhaft virtuoser Trompeter.
Insofern spiegeln die sechs Konzerte nicht die Möglichkeiten der Koethener Kapelle, sondern einen Idealzustand wider, den es im engen Musikbudget der meisten deutschen Höfe jener Zeit noch nicht gab. Allerorten – ob in Trier oder Würzburg, in Koethen oder Berlin – rang man Musiker für Musiker um Annäherungen an jene üppige Klangaura, wie sie Bach in den „Brandenburgischen“ idealiter voraussetzte.
Um dieses Ideal zu umreißen benutzte Bach sechs Konzerte, die er schon vor 1721 unter ganz verschiedenen Vorzeichen für verschiedene Höfe geschrieben hatte. Das 5. Konzert etwa könnte in seiner Urfassung ein „Reisekonzert“ des Cembalisten Bach gewesen sein: Debütkonzert beim Dresden-Besuch 1717 und Virtuosenstück für die Kuraufenthalte seines Koethener Fürsten in Karlsbad. Nr. 1 entstand spätestens 1716 als Sinfonia da caccia für den Weißenfelser Hof, im 2. Konzert deutet einiges auf Weimarer Ursprünge hin. So sehr über diese möglichen Urfassungen und Kompositionsanlässe spekuliert worden ist: entscheidend ist das zusammenfassende und monumentalisierende Bild, das Bach von den sechs ausgewählten Werken in ihrer zyklischen Gestalt gab.