Streichquartett Nr. 3 (2000)
Werkverzeichnisnummer: 4112
1. Satz (ohne Bezeichnung)
2. Satz (ohne Bezeichnung)
3. Epigraph. Molto lento e mesto
2005
VOLKER DAVID KIRCHNER
Streichquartett Nr. 3
Manchmal spielt die Musikgeschichte dem geregelten Gang der Ereignisse einen Streich. Die zweiten Klavierkonzerte von Beethoven und Chopin sind eigentlich ihre ersten, die Vierte Sinfonie von Schumann eigentlich seine Zweite etc. In der Regel entsteht die Verwirrung dadurch, dass längst uraufgeführte Stücke erst viel später publiziert werden. Beim 3. Streichquartett von Volker David Kirchner liegt der Fall genau umgekehrt: Bereits im Jahre 2001 publizierte der Mainzer Schottverlag das im Jahr zuvor beendete Quartett, und schon damals plante das Streichquartett Villa Musica die Uraufführung. Dann aber musste wegen einer Erkrankung im Ensemble das 2. Streichquartett wiederholt werden, während das 3. unaufgeführt liegen blieb. Derweil wurde das 6. Quartett von Kirchner aus der Taufe gehoben, die Premieren von Nr. 5 und 7 sind für Dezember geplant. Nur das 3. war in der Abfolge der Werke noch nachzutragen. Diese verspätete Uraufführung findet nun im Rahmen dieser Konzerte in Bernkastel-Kues statt. Auch die Aufführungen in Schloss Engers, mitgeschnitten vom SWR, und in der Villa Bellestate haben natürlich den Charakter von Premieren.
Ganz zufällig ist Volker David Kirchners 3. Streichquartett aus dem Jahre 2000 heute noch aktueller, als es damals gewesen wäre, denn für 2006 rüstet sich die Musikwelt nicht nur zum Mozart- und Schumann-, sondern auch zum Schostakowitsch-Jahr. Der größte russische Komponist des 20. Jahrhunderts wurde im September bzw. Oktober 1906 geboren, und er starb im August 1975, also vor 30 Jahren. Kirchners 3. Quartett ist nichts anderes als eine Hommage an Schostakowitsch und es überspannt in seiner Substanz tatsächlich die drei Jahrzehnte, die seit dessen Tode vergangen sind. Damals, 1975, war Kirchner ein 33-jähriger Komponist, der der Avantgarde den Kampf ansagte und sich wieder dezidiert auf die Großen der Vergangenheit bezog. Das Zitat als Ausgangspunkt seiner Werke, als Anspielung und “Spur” ist ein Wesensmerkmal seines Schaffens geblieben, manifestiert zuerst im großen Bildnisse-Zyklus für Orchester. Wie er sich in diesen Stücken auf Mozart, Mahler und Schubert bezog, wie er im 1. Klaviertrio Schumann und in anderen Werken Bartók huldigte, so hatte er damals auch eine Hommage an Schostakowitsch skizziert. 2000, zum 25. Todestag des Komponisten, griff er diese Skizzen wieder auf und verarbeitete sie zu seinem 3. Streichquartett.
Das Werk huldigt dem Meister des Mediums Streichquartett, der Schostakowitsch war, und greift für diesen typische Satzcharaktere auf. Die beißend-sarkastischen Scherzi Schostakowitschs und seine trauernden Adagios haben Kirchner im zweiten und dritten Satz seines Quartetts Modell gestanden. Dabei hat Kirchner auch klangliche Eigenarten des Russen aufgegriffen: die Peitschenhiebe des col legno battuto oder die atmosphärische Rolle des Flageoletts. Zentral für die Konstruktion des Quartetts ist darüberhinaus die viertönige Signatur, die Schostakowitsch in vielen seiner eigenen Werke als Motto verwendet hat: seine Toninitialen D-Es-C-H.
Von diesen vier Tönen ausgehend, ist das Quartett auf denkbar schlüssige Weise gebaut: Der erste Satz, eine Art Allegro, kreist um die Töne D-Es-C, das H bleibt ausgespart. Es wird erst im Unisono-Thema des Scherzos angefügt (Es-C-D-H). Im Adagio-Finale, das Kirchner Epigraph nannte, verwandelt sich das viertönige Motto in einen Trauergesang.
Der Kopfsatz springt den Hörer mit dem Dreitonmotto sozusagen an: D-Es-C werden, mit dem Bogen geschlagen, herausgepeitscht und wandern danach in einem Synkopenmotiv pianissimo durch die Stimmen. Damit sind die beiden widerstreitenden Charaktere dieses rhapsodischen Satzes umrissen, der sein Grundmotiv in einer Fülle teils skurriler, teils perkussiver Klangfarben variiert. Das dreitönige Motiv tritt mehrfach gliedernd im Cello, durch Sforzati verstärkt, wieder auf. Ein langsamer Mittelteil verwendet den von Kirchner so geliebten Fernklang (da lontano), liegende Töne, eine con sordino-Phrase der zweiten Geige und chromatische Tremoli der übrigen Stimmen. Ein Motiv aus Mozarts Maurerischer Trauermusik deutet den Sinn der Stelle an: es ist die erste Trauermusik dieses Quartetts. Sie wird überlagert von einem “Viertelton-Geheule, einer Art Ächzen” (Kirchner), das der Komponist zuerst in seinem Orchesterzyklus Getto verwendet hat. Eine knappe Reprise des Hauptteils beendet den Satz, der zum Schluss die Töne C und Es noch einmal um das verklingende D in den Außenstimmen kreisen lässt.
Im zweiten Satz tritt das Viertonmotto vollständig auf, zu einem wuchtigen Tanzthema zusammengepresst und als Ostinato vielfältig verwertet. Im Fortissimo und rhythmisch unerbittlich bricht die Welt dieses fratzenhaften Scherzos in den träumerischen Schluss des ersten Satzes ein. Eine jüdische Melodie im Fünfermetrum, mit klagender Ornamentik umkleidet, dient als Intermezzo im Hauptteil, während das Trio Flageolett, Pizzicati und chromatisches Legato zu einem unwirklichen Traumbild addiert. Das Finale, wie so oft bei Kirchner ein langsamer Satz, ist Epigraph überschrieben: sein Nachruf auf Schostakowitsch, eine wie von Ferne kommende, ins Nichts verklingende Klage im zweistimmigen Kontrapunkt, den Schostakowitsch so liebte.
Man kann diesem viertelstündigen Werk nur wünschen, dass es als Hommage an den russischen Jubilar des nächsten Jahres zusammen mit dessen Quartetten häufig gespielt wird, denn zweifellos ist es ein eingängiges, dramaturgisch schlüssiges Werk moderner Quartettkunst, das auf knappem Raum alle Register des Genres zieht.
Der Komponist dieses Werkes, 1942 in Mainz geboren und seiner Heimatstadt durch die Jahrzehnte treu geblieben, gehört zu den renommiertesten Musikdramatikern und Sinfonikern Deutschlands. Opern wie Das kalte Herz, Gilgamesh oder Ahasver, sinfonische Zyklen wie Bildnisse oder Ghetto haben breiteste Aufmerksamkeit gefunden. Der Raphael- und Zimmermann-Schüler Kirchner ist Kunstpreisträger des Landes Rheinland-Pfalz und zahlreicher anderer Auszeichnungen. Die Kammermusik des langjährigen Solobratschers im RSO Frankfurt hat in den Programmen der Villa Musica Rheinland-Pfalz ihren festen Platz.