D’un Matin du Printemps für Klaviertrio
Werkverzeichnisnummer: 4073
1999
LILI BOULANGER D’un matin du printemps
“Wenn die Porzellanpuppen der Musik sich entschließen, mit Ihm um offizielle Lorbeeren zu kämpfen, hat Er schon verloren, ehe Er überhaupt angefangen hat.” (Émile Vuillermoz in der Zeitschrift Musica, Juli 1913)
“Er” meint in diesem Zitat den Komponisten schlechthin, den musizierenden Mann, der sich im Juli 1913 in Paris zum ersten Mal in der Geschichte einer Frau geschlagen geben mußte, als es um den begehrtesten französischen Kompositionspreis ging: um den “Prix de Rome”. Der Preisträger, der in diesem Fall eben eine Preisträgerin war, durfte ein Jahr lang mit staatlichem Stipendium die Villa Medici hoch über den Kuppeln Roms besuchen. Diese Ehre wurde 1913 der blutjungen Lili Boulanger zuteil, der vielleicht begabtesten französischen Komponistin dieses Jahrhunderts.
Daß der zitierte Kritiker 1913 Komponistinnen “Porzellanpuppen der Musik” nannte, hing wohl auch mit dem optischen Eindruck zusammen, den die Preisträgerin Lili Boulanger auf ihn machte. Die Tochter eines französischen Komponisten und einer russischen Adligen, die mit vollem Namen Marie-Juliette Olga hieß, litt seit ihrer Kindheit an Broncho-pneumonie und wirkte dementsprechend zart und zerbrechlich. Sie verbrachte ihr Leben teils in strenger häuslicher Abgeschiedenheit, teils in Sanatorien, in denen die immer wieder auftretenden Krankheitsschübe behandelt wurden. In der von Männern beherrschten Musikwelt des frühen 20. Jahrhunderts wurde auch diese Besonderheit als Extravaganz einer adligen jungen Frau mißdeutet. Erst als sie im März 1918, mit 24 Jahren, in Paris starb, wurde der Öffentlichkeit die Tragik ihrer Existenz bewußt.
Welches Talent man verloren hatte, machte vor allem das Preisträgerstück von 1913, die Kantate Faust et Hélène, deutlich. Das zwischen Wagner und dem französischen Impressionismus vermittelnde Chorwerk wurde in Frankreich, Deutschland und den USA höchst erfolgreich aufgeführt. Desweiteren arbeitete Lili bis zu ihrem Tod an einer Oper nach einem Stoff von Maeterlinck, die unvollendet blieb (La Princesse Maleine), und hegte eine besondere Vorliebe für das Lied (Zyklus Clairières dans le Ciel) und die geistliche Chormusik (Pie Jesus).
Ihr instrumentales Schaffen ist dagegen schmal geblieben; es umfaßt in der Kammermusik nur sechs Werke, die zwischen 1913 und 1918 entstanden.
Das Stück unseres Programms hat sie 1918, wenige Wochen vor ihrem Tod, vollendet. Es trägt einen poetische Titel, in dem Naturstimmung zum Ausdruck kommt: D’un matin de printemps (Von einem Frühlingsmorgen). In der spätromantischen Intensität der Naturschilderung geht es über den zeitgenössischen Impressionismus hinaus.