Zwei Stücke | Kammermusikführer - Villa Musica Rheinland-Pfalz

Lili Boulanger

Zwei Stücke

Zwei Stücke

Besetzung:

Werkverzeichnisnummer: 4049

Satzbezeichnungen

1. D’un soir triste

2. D’un matin de printemps

Erläuterungen

“Wenn die Porzellanpuppen der Musik sich entschließen, mit Ihm um offizielle Lorbeeren zu kämpfen, hat Er schon verloren, ehe Er überhaupt angefangen hat.” (Émile Vuillermoz in der Zeitschrift Musica, Juli 1913)

“Er” meint in diesem Zitat den Komponisten schlechthin, den musizierenden Mann, der sich im Juli 1913 in Paris zum ersten Mal in der Geschichte einer Frau geschlagen geben musste, als es um den begehrtesten französischen Kompositionspreis ging: um den Prix de Rome. Der Preisträger, der in diesem Fall eben eine Preisträgerin war, durfte ein Jahr lang mit staatlichem Stipendium die Villa Medici hoch über den Kuppeln Roms besuchen. Diese Ehre wurde 1913 der blutjungen Lili Boulanger zuteil, der vielleicht begabtesten französischen Komponistin des 20. Jahrhunderts.

Ihre Werke gemahnen an die Tatsache, dass eine Chancengleichheit zwischen den Geschlechtern in der klassischen Musik in den vergangenen Jahrhunderten nicht bestand und auch in der Moderne erst mühsam erkämpft werden musste.

Dass der zitierte Kritiker 1913 Komponistinnen “Porzellanpuppen der Musik” nannte, hing wohl auch mit dem optischen Eindruck zusammen, den die Preisträgerin Lili Boulanger auf ihn machte. Die Tochter eines französischen Komponisten und einer russischen Adligen, die mit vollem Namen Marie-Juliette Olga hieß, litt seit ihrer Kindheit an Bronchopneumonie und wirkte dementsprechend zart und zerbrechlich. Sie verbrachte ihr Leben teils in strenger häuslicher Abgeschiedenheit, teils in Sanatorien, in denen die immer wieder auftretenden Krankheitsschübe behandelt wurden. In der von Männern beherrschten Musikwelt des frühen 20. Jahrhunderts wurde auch diese Besonderheit als Extravaganz einer adligen jungen Frau missdeutet. Erst als sie im März 1918, mit 24 Jahren, in Paris gestorben war, wurde der Öffentlichkeit die Tragik ihrer Existenz bewusst.

Welches Talent man verloren hatte, machte vor allem das Preisträgerstück von 1913, die Kantate Faust et Hélène, deutlich. Das zwischen Wagner und dem französischen Impressionismus vermittelnde Chorwerk wurde in Frankreich, Deutschland und den USA höchst erfolgreich aufgeführt. Des weiteren arbeitete Lili bis zu ihrem Tod an einer Oper nach einem Stoff von Maeterlinck, die unvollendet blieb (La Princesse Maleine), und hegte eine besondere Vorliebe für das Lied (Zyklus Clairières dans le Ciel) und die geistliche Chormusik (Pie Jesus). Ihr instrumentales Schaffen ist dagegen schmal geblieben; es umfasst in der Kammermusik nur sechs Werke, die zwischen 1913 und 1918 entstanden.

Die beiden Stücke unseres Programms hat sie 1918, wenige Wochen vor ihrem Tod, vollendet. Sie tragen poetische Titel, in denen Naturstimmungen zum Ausdruck kommen: D’un soir triste (Von einem traurigen Abend) ist ein Gegenstück zu Liedern wie Dans l’immense tristesse (In der ungeheuren Traurigkeit), in denen sich die Trauer und Bedrückung ihres eigenen Schicksals widerzuspiegeln scheinen. D’un matin de printemps (Von einem Frühlingsmorgen) ist in der unprätentiösen Naturschilderung ganz der Tradition des Impressionismus verhaftet.