Suite F-dur nach der Puvertüre Nr. 1 für Orchester, BWV 1066 (Bearbeitung:Andreas Dahmen)
Werkverzeichnisnummer: 4043
1. Ouvertüre
2. Courante
3. Gavotte I / II
4. Menuet I / II
5. Bourrée I / II
6. Passepied I / II
Im Sommer 1725 konnte Johann Sebastian Bach aufatmen: Zwei vollständige Jahrgänge geistlicher Kantaten hatte er seit seiner Berufung zum Thomaskantor in Leipzig geschaffen, Woche für Woche, Monat für Monat. Er hatte die Johannespassion komponiert, das Magnificat, das Osteroratorium und das Sanctus der späteren h-Moll-Messe. Nun ließ er den dritten Kantatenjahrgang nach zwei unscheinbaren Stücken liegen, um sich weltlichen Aufgaben zuzuwenden. Der Kapellmeister Bach meldete sich nach zwei Jahren Pause vehement wieder zu Wort.
Schon im Februar 1725 hatte ihn Herzog Christian von Sachsen-Weißenfels eingeladen, eine Schäferkantate als fürstliche Geburtstagsmusik zu dirigieren. Nachdem er dieses Werk in Leipzig vorgestellt hatte (in geistlicher Parodie als Osteroratorium), bestellten zwei Dozenten der Leipziger Universität beim Kantor ähnliche Festmusiken für ihre Geburtstage. Auf diese Weise entstand die Kantate Schwingt freudig euch empor in ihrer Urfassung, die im heutigen Konzert erklingt – neben der prachtvollen Serenata Der zufriedengestellte Aeolus vom August 1725. Im September reiste Bach nach Dresden, um mit seinem alten Freund Pisendel zu musizieren, dem Konzertmeister der sächsischen Hofkapelle. Zu diesem Zweck brachte er seine in Köthen begonnenen Sonaten für Violine und obligates Cembalo zum vorläufigen Abschluss. Gleichzeitig legte er ein musikalisches Hausbuch für die Familie an, das berühmte Notenbüchlein der Anna Magdalena Bach. Er nahm die 1722 abgebrochene Arbeit an den Französischen Suiten wieder auf, gewiss, um sie in Dresden vorzutragen. Schließlich nutzte er die kantatenfreie Zeit des Advents für ein längeres Gastspiel bei seinem früheren Dienstherrn, Fürst Leopold von Anhalt-Köthen. Unmittelbar vor dem Abstecher nach Anhalt dirigierte er im „Hohmannischen Hause am Marckte“ eine aufwendige Hochzeits-Serenata für den Sohn des Hauses, gedichtet von Gottsched. Erst zu Weihnachten 1725 nahm Bach den Faden seiner geistlichen Kantaten wieder auf.
1725 war also ein Jahr der Wende in Bachs Leipziger Prioritäten: Aus dem Thomaskantor wurde nun demonstrativ der „Director musices“ der Stadt Leipzig, der besonders gerne mit den Studenten der Universität auftrat. Zu diesem Zweck ließ er Anfang 1725 auch seine 1. Orchestersuite in Stimmen ausschreiben, und zwar von seinem Schüler Gerlach, der eines der beiden studentischen Collegia musica leitete. Offenbar fanden Bachs Orchestertänze schon damals Eingang in die Leipziger Kaffeehäuser – vier Jahre, bevor er selbst die Leitung seines Bachischen Collegium musicum übernahm.
Diesem weltlichen Bach, dem Dirigenten enthusiastischer Studenten, widmen sich im heutigen Programm exzellente junge Instrumentalisten aus der Förderung der Landesstiftung Villa Musica und Gesangsstudenten der Mainzer Universität im Rahmen des Projekts Barock Vokal. Auch diese Musikstudenten von heute haben einen begeisternden, anfeuernden Lehrer und Dirigenten: Ton Koopman. Der beste Bachkenner der Niederlande und weltberühmte Protagonist der Alten Musik schlüpft heute Abend in eine Bachsche Rolle.
Ouverture in C, BWV 1066
Nicht selten wird Bach die Freitagabendkonzerte seines Collegium musicum mit einer Ouvertüre begonnen haben, also einer Orchestersuite. Im allgemeinen wählte er dazu die populären Ouvertüren eines Fasch oder Telemann, häufig auch die schönen Suiten seiner Vetters Johann Bernhard Bach. Seltener dirigierte Bach seine eigenen Orchestersuiten, da sie „intrikater“ waren, wie er selbst schrieb. Wir wissen aber, dass er die erste, zweite und dritte Orchestersuite mit seinen Leipziger Studenten aufführte. Dies geht aus den erhaltenen Orchesterstimmen hervor.
Von der 1. Orchestersuite in C-Dur BWV 1066 haben sich nur sieben Originalstimmen in einem Umschlag erhalten, der folgenden Titel trägt: Ouverture à 2 Hautbois, 2 Violini, Viola, Fagotto con Cembalo. Nirgends ist dabei die Rede von einem Kontrabass oder einer größeren Besetzung der Streicher. Man konnte diese Suite also in kleiner, solistischer Besetzung aufführen, wie es heute Abend geschieht. Bach wird in der Regel eine Tuttibesetzung der Streicher gewählt haben, da sein Collegium musicum gelegentlich bis zu 40 Musikern umfasste.
Als Bach seinen Schüler Gerlach Anfang 1725 bat, jene sieben Orchesterstimmen zur C-Dur-Ouvertüre herauszuschreiben, muss seine Originalpartitur schon vorgelegen haben. Er könnte sie von Köthen nach Leipzig mitgebracht haben, freilich lassen gewisse melodische Anklänge an Werke aus dem Jahr 1725 vermuten, dass er sie damals in Leipzig neu komponiert hat. Als Ouvertüre war sie eine ideale Eröffnung für die öffentlichen Konzerte, die Bach und sein Schüler Gerlach in Leipzigs Kaffeehäusern dirigierten. Es handelt sich um Unterhaltungsmusik im besten Sinne: Die bürgerliche Kundschaft der Leipziger Kaffeehäuser, die sich mindestens so vornehm vorkam wie die Höflinge in Anhalt-Köthen, wurde mit der langen Ouverture und ihren „Folgetänzen“ auf einen festlichen Musikabend eingestimmt. Entsprechend „annehmlich“ klingt die Musik.
Eine Ouverture und sechs Folgetänze
Am Anfang steht die übliche Ouverture im französischen Stil. Ihr langsamer Teil ist weniger von punktierten Rhythmen geprägt und von majestätisch fließenden Sechzehnteln, die durch alle vier Stimmen laufen. Dabei gehen die beiden Oboen mit der ersten Violine, das Fagott mit dem Continuo. Erst im schnellen Teil der Ouvertüre löst sich das typisch französische Bläsertrio aus 2 Hautbois et Basson von den Streichern. In virtuosen Trio-Episoden spielen die drei Bläser ihre Version des Fugenthemas, das in den Rahmenteilen streng durch alle vier Stimmen geführt wird. Das Tempo ist sehr zügig – Vivace steht in Rötelschrift in der ersten Geigenstimme. Der kraftvolle Rhythmus tut ein Übriges, um dieser Fuge den Ausdruck von Pracht und Stolz zu verleihen. Dabei hat Bach unwillkürlich Anklänge an ein Kantatenduett mit zwei obligaten Violinen eingearbeitet, das er zum 2. Februar 1725 geschrieben hatte („Ein unbegreiflich Licht erfüllt den Kreis der Erden“ aus BWV 125).
Die sechs „Folgetänze“ nach der eigentlichen Ouverture sind denkbar abwechslungsreich und in zwei große Temposteigerungen zu je drei Sätzen gegliedert: Von der französischen Courante im breiten Dreihalbetakt führt eine Steigerung über die muntere Gavotte zur schnellen Forlane; das Menuett kehrt zum moderaten Tempo zurück, bevor die Bourrée mit ihren raschen Synkopen das schnelle Finale vorbereitet, einen Passepied. Den Zeitgenossen Bachs waren alle diese Tänze und ihre Tanzschritte vertraut wie uns heute der Tango, der Foxtrott oder der Walzer. Freilich waren Bachs Orchestertänze zum Zuhören bestimmt, nicht zum Tanzen. Man durfte sich an den eingängigen Tanzmelodien erfreuen, aber auch auf kunstvolle Details achten.
Für die Courante wählte Bach die französische Version im breiten Dreihalbetakt mit punktierten Rhythmen, nicht die schnelle italienische Form der Corrente. Er holte sich dazu eine melodische Anregung aus Frankreich: 1715 hatte Jean-Féry Rebel in Paris sein berühmtes Ballett Les charactères de la danse vorgestellt, das Bach offenbar in Dresden kennenlernte. Die Courante aus diesem Ballett beginnt fast genauso wie die Courante in BWV 1066. Offenbar wollte Bach in dieser Orchestersuite besonders französisch sein und hat deshalb melodische Anregungen von französischen Komponisten aufgegriffen.
Die Gavotte mit ihren munteren Zwei-Viertel-Auftakt ist nichts anderes als eine melodische Variante der Courante. Im Mittelteil, der Gavotte II, hat sich Bach einen Scherz erlaubt: Während die Bläser solistisch hervortreten, spielen Geigen und Bratsche unisono eine Militärfanfare. Offenbar wollte er hier den Aufzug der Leipziger Stadtwache (oder der hochfürstlichen Garde in Köthen) tonmalerisch nachahmen – nicht ohne Ironie, wie das pompöse Gehabe der beiden Oboen verrät.
Die Forlane im beschwingten Sechsvierteltakt geht auf einen Volkstanz aus dem Friaul zurück, die Furlana, die besonders gerne beim Karneval in Venedig getanzt wurde. Im Deutschland wurde sie auf dem Umweg über Paris bekannt. Um nämlich dem Pariser Publikum vorzuführen, wie man in Venedig tanzt, kam der Opernkomponist André Campra auf die Idee, eine Forlane zu schreiben – in seiner Ballettoper Die venezianischen Festen (Les fêtes venitiennes). Dieser Satz wurde auch in Deutschland so populär, dass Bach die Melodie in seiner eigenen Forlane regelrecht zitieren konnte – freilich in typisch Bachscher Umformung, mit einem kraftvollen Bass und bewegten Mittelstimmen versehen.
Die sehr rasche Bourée bezaubert durch ihre Synkopen und die jubelnde Melodie. In der Bourée II bleiben die beiden Oboen mit dem Fagott alleine und verwandeln das helle C-Dur der ersten Bourée in missmutiges c-Moll – auch dies ein Bachscher Scherz.
Die Suite schließt mit einem Passepied, dem schnellsten Tanz der damaligen Zeit. Dabei handelt es sich um ein sehr schnelles Menuett mit Auftakt, normalerweise im Dreiachteltakt notiert. Bach wählte den Dreivierteltakt, was vielleicht auf ein maßvolleres Tempo schließen lässt. Die Melodie erinnert an sein bekanntes geistliches Lied „Dir, dir, Jehova, will ich singen“ aus dem Notenbüchlein von 1725. Offenbar fand er die Melodie des Orchestertanzes so schön, dass er sie in Liedform noch einmal bearbeitete. Im Passepied II wird diese Melodie von den hohen Streichern als Mittelstimme gespielt und von den Oboen mit einer neuen, sanften Melodie umkleidet. So gab Bach seinen Zuhörern in jedem der Tänze auch ein kleines Beispiel seiner kontrapunktischen Kunst.