“Zigeunerlieder” für vier Singstimmen mit Klavierbegleitung, op. 103
Werkverzeichnisnummer: 402
1. He, Zigeuner, greife in die Saiten
2. Hochgetürmte Rimaflut
3. Wißt ihr, wann mein Kindelein am allerschönsten ist?
4. Lieber Gott, du weißt, wie oft bereut ich hab
5. Brauner Bursche führt zum Tanze
6. Röslein dreie in der Reihe blüht so rot
7. Kommt dir manchmal in den Sinn
8. Horch, der Wind klagt in den Zweigen
9. Weit und breit schaut niemand mich an
10. Mond verhüllt sein Angesicht
11. Rote Abendwolken ziehn am Firmament
JOHANNES BRAHMS hat sechs Zyklen von Vokalquartetten mit Klavierbegleitung geschrieben, von denen nur zwei – die Liebeslieder. Walzer, op. 52, und die Zigeunerlieder, op. 103 – populär geworden sind, und zwar durch die Aufnahme ins Chorrepertoire. Dies war nicht unbedingt im Sinne des Erfinders, wie aus der Vorgeschichte der Quartette op. 64 hervorgeht. Als die Edition Peters auf die Erstausgabe 1874 den Zusatz “oder für kleineren Chor” drucken wollte, protestierte der Komponist scharf “Wenn ich etwa davon schrieb (von einer alternativen Chorbesetzung), so meinte ich: wir möchten stillschweigend Rücksicht nehmen auf die heutige Unsitte, alles mit mehr oder weniger Ungeschmack möglichst anders zu musizieren, als der Komponist schrieb. ..
Wie denn z. B. meine Liebeslieder vom Chor und gar mit Orchester musiziert werden!” Solostimmen waren für Brahms die ursprüngliche, im Grunde einzige Besetzung seiner Quartette. Aus op. 64 hat er dann aber doch zwei Sätze für kleineren Chor freigegeben. Deshalb ist es wohl legitim, auch einen Zyklus wie die Zigeunerlieder mit kleinem Chor – in unserem Fall 9 Stimmen – aufzuführen.
Die ZIGEUNERLIEDER sind “das exotischere Gegenstück zu den Liebeslieder-Walzern, vokales Gegenstück aber auch zu den Ungarischen Tänzen.” (Karl Laux) Ebenso könnte man von einer Fortsetzung des Schumann’schen Liederspiels auf ungarischem Terrain sprechen. Dieses Terrain hatte zu Brahms’ Wiener Wahlheimat einen wesentlich direkteren und authentischeren Bezug als Spanien zu Schumann oder Geibel. Die Entstehungsgeschichte der Zigeunerlieder ist ein rührendes Zeugnis dafür.
Fräulein Witzl, das Kindermädchen der mit Brahms befreundeten Familie Brüll, war eine gebürtige Ungarin. Sie hatte die Originale der Volkslieder aus dem Ungarischen übersetzt und ihrem früheren Dienstherrn Hugo Conrat übergeben, der sie in Verse brachte und mit den Originalmelodien zu einer Sammlung zusammenstellte. Angeregt durch einen “Budapester Winterausflug”, machte sich dann Brahms 1887/88 daran, die Stücke neu zu bearbeiten. Dazu muß man wissen, daß er seit seiner Jugend ein Spezialist im ungarischen Genre war und in Wien zu den Stammgästen der Zigeunerkapellen im Prater gehörte. Seine musikalische Fassung der Zigeunerlieder kann also in hohem Maß Authentizität beanspruchen.
Uraufgeführt wurden die Stücke in einem Kaffeekränzchen: in der “Kipfeljause” der Damen Brüll und Kalbeck, die sich regelmäßig trafen, weniger der gezuckerten als der musikalischen Kipferl wegen, die ihnen Brahms mit unermüdlichem Eifer halbe Tage lang kredenzte. Solche Freundeszirkel der bürgerlichen Gesellschaft mit ihren musikalisch sattelfesten Mitgliedern waren denn auch der Hauptabnehmer der gesamten romantischen Quartettliteratur. Marie Brüll erinnert sich: “Ich höre es noch: ‘Schönstes Städchen in Alföld ist Kerschkemet’ und ‘Täusch mich nicht’. Ich höre Walters warmen Ton, Minnas helle Höhe, Herminens dunklen Alt und die schöne volle Stimme Ihres Mannes (Max Kalbeck), der, blond und lustig, mit seinem Riesenzeigefinger taktierte. Brahms aber stand, blauäugig und prachtvoll, vor dem Quartett und hatte seine Freude an den Sängern und an sich. Letzteres hat er sich ja nicht so leicht gegönnt. Auf einmal rannte er, wie aus der Kanone geschossen, in unser Kinderzimmer, zog unser nettes, feines, bescheidenes Fräulein Witzl heraus und brachte sie ins Musikzimmer. Sie mußte sich setzen und als ‘Urheberin’ der Zigeunerlieder die Quartette anhören … es ist so echt Brahms gewesen, daran zu denken und dem bescheidenen Mädchen die Ehrung zu bereiten.”
Über den Aufbau des Zyklus gäbe es so manches zu sagen, die Wirkung ist aber so unmittelbar, daß Analyse zum Verständnis kaum von Nöten ist. Nur auf den ungemein schwierigen Klavierpart – manchmal beinahe ein Klavierkonzert – und auf die subtile Stimmführung soll hingewiesen werden, ferner auf die Funktion des Ornaments und den exotischen Reiz fremdländischer Harmonie. Wie Schumann im Liederspiel von der Vorstellung spanischer Klänge und Arabesken zu für ihn neuartigen Wirkungen inspiriert wurde, so hat auch der alternde Brahms die Volksmusik Ungarns gewissermaßen als Jungbrunnen benutzt, was zwei Jahre nach den Zigeunerliedern im G-Dur-Streichquintett und im Klarinettenquintett seinen schönsten Niederschlag fand.