Sonate Nr. 1 G-Dur für Violine und Klavier, op. 78
Werkverzeichnisnummer: 390
1. Vivace ma non troppo
2. Adagio
3. Allegro molto moderato
Während Ludwig van Beethoven die Tonart G-Dur in seinen Violinsonaten die Tonart G-Dur mal gesanglich, mal burschikos deutete, hat Brahms ihr in seiner 1. Violinsonate ein Denkmal von schönster Innigkeit gesetzt. Brahms‘ Biograph Max Kalbeck, sonst eher ein Meister befremdlicher hermeneutischer Vergleiche, hat hier einmal den Kern der Sache getroffen, als er schrieb, die eigenartige Stimmung der Sonate sei „so eindringlich niemals wieder ausgesprochen worden“. Er nannte sie ein „doppeltes Lenzlied, das die Vergangenheit mit der Gegenwart wieder zum Blühen bringt und dabei an die Hinfälligkeit der Zeiten mahnt“. Damit bezeichnete er treffend den seltsamen Schwebezustand zwischen Dur und Moll, zwischen blühender Innigkeit und verhaltener Melancholie, in dem sich das ganze Werk bewegt. Die Freunde von Brahms empfanden schon beim ersten Durchspielen diesen eigenartigen Zauber, der über den drei Sätzen liegt.
Brahms begann die Sonate im Mai 1878 in Pörtschach am Wörthersee, wo er auf der Rückfahrt von seiner ersten Italienreise sozusagen hängengeblieben war: „Ich bin so menschenfreundlich, Dir nichts von Italien zu erzählen“, schrieb er an Arthur Faber nach Wien, „aber erzählen will ich, daß ich hier in ‚Pörtschach am See‘ ausstieg mit der Absicht, den nächsten Tag nach Wien zu fahren. Der erste Tag war so schön, daß ich den zweiten durchaus bleiben mußte – der zweite aber so schön, daß ich fürs erste weiter bleibe. In Italien haben wir [Brahms und sein Reisebegleiter Theodor Billroth] den Frühling zum Sommer werden sehen, und hier lebt er noch in den ersten Kindertagen. Es ist entzückend.“ Etwas von dieser fein beschriebenen Stimmung des ersten Frühlings, aber auch vom üppigen Blühen der Natur im gerade bereisten Italien steckt in der Sonate. Brahms hat kein zweites Werk geschrieben, das sich so sehr dem Reiz des Melodischen überlässt und so wenig von der Arbeit mit den Motiven spüren lässt, die gleichwohl stattfindet.
Im ersten Satz, Vivace ma non troppo, taucht die „schwebende Rhythmik im Verein mit den unbestimmten Harmonien“ die herrlichen Themen in ein eigenartiges Licht. Schon das erste Thema ist ein unter zarten Vorhalten aufblühender Melodiebogen, der entwaffnend unprätentiös daherkommt. Vor dem noch beseelteren Seitenthema muss man endgültig die Waffen strecken. Die Rhythmen, im ersten Thema sarabendenhaft gemessen, im zweiten ländlerhaft schwungvoll, hat Brahms subtil gegeneinander abgestuft und daraus den Stoff für die Durchführung gewonnen. Sie hebt mit einem scherzenden Walzer an (grazioso) und scheint das charmante Hauptthema in immer feinere Klänge einspinnen zu wollen, bis es über eine wundervolle Des-Dur-Stelle doch noch zum leidenschaftlichen Ausbruch kommt. Die Themen verwandeln sich in pathetischen Mollgesang, und zwar so hemmungslos, dass die Reprise in G-Dur nur mühsam und zaghaft über g-Moll erreicht wird. Brahms hat hier den Tonartgegensatz des Finales schon vorweggenommen und ihn in der Coda vorläufig gelöst. Im Sempre crescendo steigt die Violine in die zuvor nur selten berührte dritte Oktav – das strahlende Ende eines lichten Satzes.
Mit dem langsamen Satz, einem Adagio in Es-Dur, das sich bis zum Trauerkondukt steigert, hat es eine besondere Bewandtnis. Auf seiner Italienreise hatte Brahms Felix Schumann besucht, den an Tuberkulose erkrankten Sohn von Clara und Robert Schumann, der sich in Palermo zur Kur aufhielt. Brahms‘ Chirurgenfreund Billroth hatte den Patienten untersucht und festgestellt, dass keine Hoffnung mehr bestand. Kalbeck und andere Brahmsfreunde haben wohl mit Recht vermutet, dass das Adagio der ersten Violinsonate die Trauer über die Krankheit seines Patensohns Felix widerspiegelt. Brahms zahlte denn auch die 1000 Taler Honorar, die er von seinem Verleger Simrock für die Sonate erhielt, in den Schumann-Fonds ein. Dieser Zusammenhang mit seinem engsten Freundeskreis kehrt in den folgenden beiden Violinsonaten wieder. Die drei Werke sind, deutlicher als seine groß besetzten Kammermusiken, intime autobiographische Bekenntnisse.
Daraus erklärt sich auch der enge Bezug aller drei Sonaten zu seinen Liedern. Das Kunstlied war für Brahms unmittelbarster Ausdruck seiner Gefühle und Weltanschauungen. Durch Liedzitate floss einiges davon in die drei Violinsonaten ein und gab ihnen einen poetischen Gehalt. Der letzte Satz der G-Dur-Sonate ist aus dem zweiten der drei sogenannten „Regenlieder“ abgeleitet, die er 1872/73 über Gedichte von Klaus Groth schrieb. Ihr gemeinsamer Tenor ist der melancholische Rückblick auf die verlorene Jugend. 1872 vertonte Brahms zum ersten Mal das Groth-Gedicht „Walle, Regen, walle nieder“, und zwar in einer Fassung, die er zwar dem Dichter übersandte, aber nie veröffentlichte (Werk ohne Opuszahl 23). Im Jahr darauf schrieb er eine Neuvertonung desselben Gedichts als Nr. 3 seines Opus 59 (Acht Lieder und Gesänge). In dieser Fassung wurde das Regenlied bekannt und für die Violinsonate relevant. Der punktierte Rhythmus, mit dem das Lied anhebt („walle, Regen“), und die folgende melancholische fis-Moll-Melodie kehren in Nr. 4 des Opus 59, dem Lied Nachklang wieder (hier auf den Text „Regentropfen aus den Bäumen fallen“). Das Finale der Sonate nimmt also auch auf dieses Lied Bezug. Den beiden Liedern und dem Sonatensatz gemeinsam ist die weiche, von einer Art Tropfenmotiv durchzogene Klavierbegleitung. Beide Elemente zusammengenommen, die Melodie mit ihrem charakteristischen Auftakt im punktierten Rhythmus und die Begleitung, erzeugen eine herbstlich verhangene Stimmung, eine Aura verschwimmender Konturen, deren Wirkung am schönsten Elisabet von Herzogenberg umschrieben hat: „Der letzte Satz gar umspinnt einen förmlich, und der Stimmungsgehalt ist direkt überfließend, daß man sich geichsam fragt, ob denn dieses bestimmte Musikstück in g-Moll einen so gerührt – oder was sonst, einem unbewußt, einen so im Innersten erfaßte.“
Formal ist der Satz eines der für Brahms charakteristischen Moll-Dur-Finali. Ähnlich wie im Finale der dritten Sinfonie, nur weniger dramatisch lichtet sich das g-Moll erst ganz am Ende zum G-Dur, während sich die Bewegung beruhigt und die Klangfarben aufhellen. Dabei wird das punktierte Kopfmotiv des Satzes (jenes „walle, Regen, walle“ aus dem Regenlied) soweit abstrahiert, dass endlich der Zusammenhang mit dem ersten Satz deutlich wird. Dessen Kopfmotiv ist nämlich nichts anderes als das „Walle“-Motiv des Finales. Da am Schluss außerdem das Es-Dur-Thema des Adagios noch mehrmals anklingt, rundet sich die G-Dur-Sonate zur lyrischen Einheit. Sie scheint – wie so viele Werke von Brahms – die resignative Weltsicht des Komponisten widerzuspiegeln: den Weg vom Frühling in den Herbst des Lebens, von der Daseinsfreude in die Melancholie, aber ohne Sentimentalität und mit einer Schlusswendung, die vertrauensvolle Gefasstheit anzudeuten scheint.
Die Uraufführung des Werkes erfolgte übrigens nicht, wie man früher glaubte, am 20. November 1879 im Kleinen Saal des Wiener Musikvereins mit dem Komponisten am Klavier und dem Wiener Primarius Josef Hellmesberger. Robert Heckmann in Bonn war um wenige Tage schneller. In der ersten Kammermusiksoirée der Saison spielte er die Sonate im Saal zum Goldenen Stern in Bonn am 8.11.1879 zusammen mit seiner Frau am Klavier und wiederholte sie am 11.11. in Köln – durchaus kein Karnevalsscherz!