Quintett für Klavier, zwei Violinen, Viola und Violoncello, op. 63
Werkverzeichnisnummer: 3837
1. Molto moderato
2. Adagio
3. Allegretto molto grazioso e sempre scherzando
3. Allegro giocoso, ma non troppo presto
2000
FRIEDRICH GERNSHEIM Klavierquintett h-Moll, op. 63
Friedrich Gernsheim war der bedeutendste romantische Komponist, der im Gebiet des heutigen Rheinland-Pfalz geboren wurde. In unserem Programm baut er zwanglos eine Brücke zwischen Saint-Saëns und Brahms, denn er war mit beiden fast gleichaltrigen Kollegen befreundet und von ihner Musik beeinflusst.
Gernsheim wurde 1839 als Sohn eines jüdischen Arztes in Worms geboren. Vom Leiter des Wormser Musikvereins, Louis Liebe, erhielt er die erste Unterweisung im Tonsatz und auf dem Klavier, auf dem er sich 1848/49 bei Ernst Pauer in Mainz vervollkommnete. In Frankfurt wurde 1850 die erste Orchesterouvertüre des damals Elfjährigen aufgeführt. Seine Studien setzt er am Leipziger Konservatorium bei Moscheles (Klavier), Hauptmann (Theorie) und David (Violine) fort. In Paris absolvierte er ein fünfjähriges Klavierstudium bei Marmontel und befreundete sich mit Saint-Saëns. Zurück in Deutschland nahm er zunächst eine Chorleiterstelle in Saarbrücken an, bevor er 1865 als Lehrer für Komposition und Klavier ans Kölner Konservatorium berufen wurde. Zwischen 1874 und 1890 leitete er den Musikverein in Rotterdam, 1890 übernahm er den Sternschen Gesangverein und eine Lehrerstelle am Sternschen Konservatorium in Berlin. Als Professor an der Akademie der Künste, international renommierter Pianist und Dirigent verbrachte er seine Berliner Schaffensjahre.
Gernsheim schrieb vier Sinfonien (die erste noch vor Brahms‘ Erster), Chorwerke, Lieder (teilweise auf Holländisch!), Gesangsszenen und Solokonzerte sowie über 20 Opera mit Kammermusik. „In der Vielseitigkeit seines Schaffens fehlen nur die Oper und das abendfüllende Chorwerk“ (Willi Kahl). Stilistisch war er einer der führenden Repräsentanten der sogenannten „akademischen“ Schule, die sich in der Nachfolge von Schumann und Mendelssohn und im Gegensatz zur „Neudeutschen Schule“ als Hüterin der klassischen Formen verstand. Sein Werk berührt sich deshalb nicht zufällig mit dem von Brahms, „mit dem ihn seit 1868 eine nahe Freundschaft verband“ (Kahl). Traditionelles Formverständnis innerhalb der überlieferten klassischen Gattungen paart sich mit einer an Brahms gemahnenden Themenbildung und motivischer Arbeit, die allerdings die Komplexität brahmsscher Verläufe nicht erreicht. Dennoch kann Gernsheim „im Kreise der Berliner Akademiker … als der fortschrittlichste gelten, was die rhythmische Beweglichkeit, die Harmonik und das instrumentale Kolorit angeht.“ (Kahl) Sein Brahms vergleichbares Kammermusik-Oeuvre (5 Streichquartette, 2 Streichquintette, 2 Klaviertrios, 3 Klavierquartette, 2 Klavierquintette, 4 Violinsonaten) gipfelt in den großen Quintetten der späteren Jahre.
Dazu gehört das 2. Klavierquintett h-Moll von 1897. Wie die Klavierquintette von Brahms, Dvorak und Franck wirkt es im Klang quasi-sinfonisch gesteigert und im harmonisch-formalen raumgreifend. Gernsheim hat allerdings knappere Dimensionen benutzt als seine großen Vorbilder. Die Wege zwischen den Themen sind weit weniger komplex als in Brahms‘ op. 34.
Wie der Kopfsatz des h-Moll-Klarinettenquintetts von Brahms steht der erste Satz im 6/8-Takt, was einen ähnlichen, moderat-schwingenden Duktus ergibt wie bei dem Brahms-Vorbild. Das Kopfmotiv Gernsheims wird im Klavier vorgestellt, zunächst in einer rhythmisch profilierten, quasi-barocken Gestalt, dann als zarte Gegenstimme zu einer weitgespannten h-Moll-Melodie. Diese Doppelgesichtigkeit des Motivs bestimmt den ganzen Satz: mal begegnet es in zarter piano-Gestalt, mal als schroffes Kontrastmotiv. Der Seitensatz ist ein veritabler Walzer der vier Streicher, mit der ganzen Süße straußscher Melodien behaftet und über den Pizzicati des Cellos weit ausgesponnen. Ohne Wiederholung der Exposition schließt sich die Durchführung an, die wieder mit dem Hauptthema in h-Moll beginnt, dann aber harmonisch weit ausgreift (bis nach As-Dur) und mit kontrapunktischen Varianten (Engführung etc.) operiert. Abgesehen vom idyllischen Seitenthema verharrt der ganze Rest des Satzes in misanthropischen Forte-Klängen, wobei sich die Coda als „zweite Durchführung“ des Seitenthemas erweist.
Das Adagio steht in versöhnlichem H-Dur, das allerdings in einem g-Moll-Mittelteil wieder von Appassionato-Ausbrüchen abgelöst wird. Zunächst dominiert der Klangreiz eines zarten Claire de lune aus gebrochenen Triolen-Dreiklängen und leisen Streicherakkorden. Auf ein kurzes Einleitungsthema folgt als eigentliches Hauptthema eine Melodie der ersten Violine, die anschließend ins Klavier wandert. Nach dem Mittelteil wird diese Melodie wieder aufgegriffen und mit dem Einleitungsthema kombiniert.
Zu Beginn des Scherzo hat Gernsheim den Widmungsträgern des Quintetts, dem Böhmischen Streichquartett, ein Denkmal gesetzt: Molto grazioso e sempre scherzando spielen die Streicher ein volkstümliches böhmisches Thema über Staccatoläufen. Der Anfang könnte in seiner elfenhaften Leichtigkeit von Mendelssohn stammen, zumal auch das Klavier in den duftigen Leggiero-Klang eingebunden ist. Ironische Espressivo-Dialoge über den ersten Takt des Satzes und eine laute Es-Dur-Episode gehören zu den Pointen dieses wahrhaft gut gelaunten Scherzos. Man kann sich vorstellen, wie der brillante Pianist Gernsheim hier mit seinen böhmischen Freunden in humorvoller Konversation schwelgte. „Wuchtig“, aber ebenfalls mit Humor beginnt das H-Dur-Finale. Das misanthropische h-Moll hat Gernsheim sich für das Seitenthema aufgespart, doch es kann sich in diesem jovialen Tanzsatz von böhmischem Kolorit nicht behaupten. „Wuchtiges“ Tutti bestimmt den Klang, ein Kehraus-Finale im besten Sinne mit einem mitreißenden Schluss.