Sonate d-Moll für Klavier und Violine, op. 108
Werkverzeichnisnummer: 387
1. Allegro
2. Adagio
3. Un poco presto e con sentimento
4. Presto agitato
Wenn Johannes Brahms der ungarischen Volksmusik in seiner 3. Violinsonate seine Reverenz erwies, so meinte er damit eine andere ungarische Musik als der Volksmusikforscher Béla Bartók 40 Jahre später. Für Brahms blieb die Zigeuner-Folklore des 19. Jahrhunderts, die Bartók als unauthentisch anprangerte, Inbegriff ungarischer Musik – von seiner frühen Begegnung mit Exil-Ungarn in Hamburg 1848 bis hin zu den täglichen Besuchen des alternden Brahms bei den Csárdás-Kapellen im Prater. Im Duktus und Tonfall seiner 3. Violinsonate in d-Moll hat Brahms die Musik jener Kapellen eingefangen und zugleich überhöht zum spätromantischen Bekenntniswerk. Das magyarische Idiom bildet hier – wie auch im G-Dur-Streichquintett, im Klarinettenquintett und -trio – eine melancholische Grundfarbe, auf der sich extreme Spannungen vollziehen. Die Ecksätze sind Zeugnisse des Misantropen Brahms, drängend-unruhige Gebilde von düsterer Grundhaltung. Das Adagio dagegen bildet Ruhepol und lyrische Mitte. Der dritte Satz nimmt, wie oft beim späten Brahms, die Züge eines lyrischen Intermezzos an.
Innerhalb der Stilentwicklung von Brahms gilt die d-Moll-Sonate als Brücke zwischen der mittleren und der späten Periode. 1888 vollendet, wurde sie bereits 1886 am Thuner See in der Schweiz begonnen – während jenes „Kammermusiksommers“, in dem Brahms auch die zweite Violin-, zweite Cellosonate und das dritte Klaviertrio komponierte. Alle diese Werke wurden von Musikern inspiriert, die Brahms kannte: die Cellosonate von Robert Hausmann oder die A-Dur-Violinsonate von dem Wiener Primarius Josef Hellmesberger. Die d-Moll-Sonate ist nicht einem Geiger, sondern einem Pianisten gewidmet – dem Klaviervirtuosen und Dirigenten Hans von Bülow. Folgerichtig ist es der Klavierpart, der hier dominiert. Für die Geigenstimme dachte Brahms an zwei ungarische Geiger: an Jenö Hubay, mit dem er das Werk im Dezember 1888 in Budapest zur Uraufführung brachte, und an seinen Jugendfreund Joseph Joachim, mit dem er es im Februar 1889 zum ersten Mal spielte. Im Vergleich zu den ersten beiden Violinsonaten mit ihren subtilen Dialogen und fein abgetönten Klangmischungen tritt die Geige hier mit dem raumgreifenden Klavierpart in einen konzertanten Wettstreit. In seiner 3. Sonate zollte Brahms dem Genre der „Grande Sonate“ seinen Tribut – durch die Viersätzigkeit, die dramatischen Ecksätze und den virtuosen Klavierpart, über den sich die Geige triumphal erheben kann. Nicht umsonst ist diese Sonate heute im Konzertsaal die beliebteste seiner drei Violinsonaten.
Der erste Satz ist vor allem durch zwei Momente gekennzeichnet: durch sein langgezogenes Hauptthema, das die Violine auf schwankendem Klaviergrund vorträgt, und das in seiner klagend-insistierenden ungarischen Melodik so überaus sprechend wirkt, und durch zwei große Orgelpunkte in Durchführung und Coda, über denen sich ein zwielichtiges, chromatisches Toccatenspiel entfaltet. Beide Elemente verleihen dem Satz einen fast hermetischen Charakter von Klage, der sich nur im schwärmerischen zweiten Thema auflockert.
Hatte Brahms in seinen ersten beiden Violinsonaten auf Themen aus seinen Liedern zurückgegriffen, so ist es in der d-Moll-Sonate lediglich ein liedartiger Ausdruck ohne direktes Zitat, der den langsamen Satz bestimmt. Sein Thema über absteigenden Terzen zitiert an einer Stelle den ersten Satz des Violinkonzerts. Nach einem lyrischen Zwischenspiel, das an Brahms‘ späte Intermezzi erinnert, kehrt das Violinthema variiert wieder und wird in der Coda harmonisch schön verändert.
Der dritte Satz löst den Intermezzocharakter dadurch ein, dass er ein tastendes Thema durch wundersame Metamorphosen des Ausdrucks führt. Der ungarische Duktus entsteht hier aus dem doppelten „Tanzschritt“ zu Beginn jedes Taktes, die eigenartige Farbe der Harmonik resultiert aus der fis-Moll-Tonart, die zu den anderen Sätzen im Terzverhältnis steht.
Das Finale ist der stürmischste Satz des Werkes. Elisabet von Herzogenberg, die Ehefrau des Komponisten Heinrich von Herzogenberg und sensibelste Kritikerin des späten Brahms, schrieb dazu: „Es hat das, was das Finale vor allem braucht: fortstürmenden Zug im höchsten Maße. Wie die Rosse der Aurora auf jenem herrlichen Bilde stürmt es dahin, und man ruht erst aus bei dem so beschwichtigenden feierlich schönen zweiten Thema.“ Bei dem von ihr erwähnten „herrlichen Bilde“ handelte es sich um die seinerzeit berühmte Darstellung der Aurora von Guido Reni im Casino Ludovisi in Rom. Eine Reproduktion dieses Bildes, das die Rosse des Sonnengottes in den Mittelpunkt stellt, hing im Arbeitszimmer von Brahms in der Wiener Karlsgasse.