"Thuner Sonate", Violinsonate A-Dur, op. 100 | Kammermusikführer - Villa Musica Rheinland-Pfalz

Johannes Brahms

"Thuner Sonate", Violinsonate A-Dur, op. 100

„Thuner Sonate“, Sonate A-Dur für Klavier und Violine, op. 100

Besetzung:

Werkverzeichnisnummer: 386

Satzbezeichnungen

1. Allegro amabile

2. Andante tranquillo – Vivace

3. Allegretto grazioso, quasi andante

Erläuterungen

„Eine Liebes- und Lieder-Sonate“ hat der Biograph Max Kalbeck die A-Dur-Violinsonate von Brahms genannt. Allegro amabile schrieb der Komponist hinreichend deutlich über den ersten Satz, und auch sonst hat er aus dem Umstand, dass die Sonate „in Erwartung einer lieben Freundin“ komponiert wurde, keinen Hehl gemacht. Sie ist ein Gedicht in drei Strophen zu Ehren der Sängerin Hermine Spies.

Als Brahms 1886 seinen „Kammermusiksommer“ am Thuner See in der Schweiz verbrachte (wir verdanken ihm die 2. Cello- und 2. Violinsonate sowie das c-Moll-Klaviertrio, Opera 99, 100 und 101), erreichte ihn die freudige Nachricht, Hermine werde ihn mit Freunden aus Wiesbaden besuchen. Sofort begann er zu komponieren – zwei neue Lieder, die er so verführerisch aufs Klavier drapierte, dass Hermine nicht widerstehen konnte, und die Violinsonate, die mit jenen Liedern eng zusammenhängt. Die Geschichte, wie sie Hermines Schwester Minna erzählt, ist zu rührend und zu wesentlich für das Verständnis der Sonate, um sie hier zu verschweigen: „Ein Spätsommertag war’s. Die Nachmittagssonne stand vor ihrem Untergange und strahlte golden über die Wasser und durch die geöffneten Fenster zu uns herein. Die Blumengehänge, die über die Ufer des Sees herabfielen, wurden zu neuen glutvollen Farben erweckt und sandten ihren Duft herüber. Hermine sang dazu. Zwei neue, noch ungedruckte Lieder lagen auf dem Notenpult des Flügels, ‚Immer leiser wird mein Schlummer‘ und ‚Wie Melodien zieht es‘. Brahms begleitete.“

Wie eine Vorahnung dieses sommerlich erfüllten Augenblicks hat Brahms die A-Dur-Violinsonate entworfen und ihr verborgenes Motto miteinkomponiert. Es sind jene Verse von Klaus Groth, die seinem zweiten für Hermine komponierten Lied zugrunde liegen:

Wie Melodien zieht es
Mir leise durch den Sinn,
Wie Frühlingsblumen blüht es
Und schwebt wie Duft dahin.

Aus der Liedmelodie zu diesen Versen entwickelte Brahms das Seitenthema des Kopfsatzes, aus dem Lied Komm bald das Hauptthema. Dahinter verbirgt sich nicht nur ein doppeltes Geständnis an Hermine Spies, sondern auch ein ästhetisches Programm. In der A-Dur-Sonate „blüht es und schwebt“ wie in keiner zweiten der Gattung, alles wirkt zart und duftig, ohne das Thema „Virtuosität“ auch nur zu streifen – eine „Liebes- und Liedersonate“ eben.
Auch formal ist die Sonate von nicht zu übertreffender Schlichtheit, so als habe Brahms seine Kritiker einmal mit einem Höchstmaß an Natürlichkeit und Wärme überraschen wollen. Das erste Thema des Kopfsatzes ist gleichsam ganz Gesang (einschließlich einer Reminiszenz an Stolzings „Preislied“ aus den Meistersingern von Nürnberg, die Brahms wohl nur zufällig unterlaufen ist). Das Thema wird vom Klavier in viertaktigen Phrasen vorgestellt, die die Violine echoartig beantwortet. Ihre Einwürfe wirken wie ein Nachsinnen über das eben Gesagte, ein zögerlicher Ansatz zum Dialog. In der Reprise übernimmt jeder Parnter mit dem Echotakt zugleich die melodische Führung – der zögerliche Beginn ist traulichem Gespräch gewichen.

Die Überleitung zum Seitensatz wird auf ganz brahmssche Weise dadurch erreicht, dass sich der Rhythmus zu einem kraftvollen Daktylus verdichtet. Gepaart mit Doppelgriffen der Violine ist dies das einzige Kontrastmoment inmitten des lyrischen Strömens liedhafter Melodien. Die schönste von ihnen ist der kleine Walzer des Seitenthemas mit seinem Anklang an Wie Melodien zieht es. Ein Triolenmotiv beschließt die Exposition und verwandelt sich mitten in der Durchführung unversehens in ein chopinsches Nocturne. Es bleibt das einzige Schattengebilde in einem sonst sommerlich taghellen Satz, der mit einer strahlenden Coda endet.

Eine schön ausschwingende Violinmelodie in der terzverwandten Tonart F-Dur eröffnet den Mittelsatz, der bald sein wahres Formgesicht offenbart. Es handelt sich um ein Wechselstrophenlied, in dem auf das Andante tranquillo drei Mal ein Vivace in Moll folgt. Motivisch hängen die beiden Themen so eng zusammen, dass sie wie zwei Seiten einer Medaille wirken. Heinrich von Herzogenberg nannte das Andante eine Braut, die „ihren Bräutigam, einen munter-traurigen Norweger, gleich mitgebracht“ habe. In der Tat spricht aus den schnellen Mollteilen eine Art norwegischer „Volkston“. Bei der ersten Wiederholung wird dieser rustikale Tonfall durch Pizzicati noch gesteigert, am Ende, wo beide Themen auf ihre Quintessenz reduziert sind, verwandelt sich der „munter-traurige Norweger“ unversehens in eine kesse Pointe. Es ist der Brahms der zarten, unaufdringlichen Gesten, der aus diesem Satz spricht, ähnlich wie aus dem Scherzo des c-Moll-Trios oder dem Andante der F-Dur-Cellosonate, die ebenfalls Produkte jenes Thuner Sommers 1886 waren.

Das Finale der A-Dur-Sonate ist in Brahms´ Kammermusik ein Unikum: der einzige Fall eines Allegretto quasi Andante, eines fast zum langsamen Satz heruntergestuften lyrischen Finales. Das Violinthema auf der G-Saite wirkt so entspannt und zurückgenommen, die Klavierarabesken danach erscheinen so improvisatorisch aus dem Augenblick geboren, als habe der Satz gar nicht erst vor, formale Gestalt anzunehmen. Es ist ein feiner Abgesang auf die Stimmung eines Sommerabends, nicht das kantige Fortefinale, das man von Brahms gewohnt ist.

Der Komponist hat die Sonate noch am Thuner See privatissime, im Dezember 1886 im Wiener Musikverein öffentlich uraufgeführt, letzteres im Verein mit dem Wiener Quartett-Primarius Joseph Hellmesberger.