Variationen für Klavier, op. 27
Werkverzeichnisnummer: 3780
„Wenn er sang und schrie, seine Arme bewegte und mit den Füßen stampfte beim Versuch, das auszudrücken, was er die Bedeutung der Musik nannte, war ich erstaunt zu sehen, daß er diese wenigen, für sich allein stehenden Noten behandelte, als ob es Tonkaskaden wären. Er bezog sich ständig auf die Melodie, welche, wie er sagte, reden müsse wie ein gesprochener Satz. Diese Melodie lag manchmal in den Spitzentönen der rechten Hand und dann einige Takte lang aufgeteilt zwischen linker und rechter. Sie wurde geformt durch einen riesigen Aufwand von ständigem Rubato und einer unmöglich vorherzusehenden Verteilung von Akzenten. Aber es gab auch alle paar Takte entschiedene Tempowechsel, um den Anfang eines neuen gesprochenen Satzes zu kennzeichnen…“.
Der Wiener Pianist Peter Stadlen hat dieses höchst eindringliche Bild des besessenen Webern bei der Einstudierung seiner Variationen Opus 27 überliefert. Stadlen studierte das Stück 1937 für die Uraufführung über mehrere Wochen mit dem Komponisten ein – ein strapaziöses Ringen um die Ausdruckspalette von wenigen Minuten Musik: „Gelegentlich versuchte er, die allgemeine Stimmung eines Stückes anzuzeigen, indem er das quasi improvisando des ersten Satzes mit einem Intermezzo von Brahms verglich, oder den Scherzocharakter des zweiten mit der Badinerie von Bachs h-moll-Suite, an die er, wie er sagte, bei der Komposition seines Stückes gedacht hatte. Aber die Art, in der dieses ausgeführt werden mußte, war in Weberns Vorstellung genau festgelegt und nie auch nur im geringsten der Stimmung des Augenblicks überlassen . . . Nicht ein einzigesmal berührte Webern den Reihenaspekt seiner Klaviervariationen. Selbst als ich ihn fragte, lehnte er es ab, mich darin einzuführen – weil es, sagte er, für mich wichtig wäre, zu wissen, wie das Stück gespielt wird, nicht wie es gemacht worden ist.“
Der Musikwissenschaftler Frank Schneider bewertete das Werk in Weberns Schaffen folgendermaßen: „Weder war Webern Pianist, noch widmete er als Tonsetzer dem Klavier besondere Aufmerksamkeit. Sein marksteinsetzendes Werk für dieses Instrument, die Variationen op. 27, entstand erst 9 Jahre vor dem Tode des Komponisten… Die immer wieder hervorgehobene Tendenz der Webernschen Musik zur Aussparung, zur Schrumpfung und zum Verstummen wendet sich gewiß gegen ein Weltgeschrei, vor dessen brutaler Gewalt und mörderischen Konsequenzen er gerade in jenen Jahren in Österreich allen Grund hatte, sich – wenn auch ohnmächtig – abzuschließen. Die Beschäftigung mit Musik, wenige Freunde und Schüler blieben als Ermutigung für Webern, der zunehmend vereinsamte, künstlerisch totgeschwiegen wurde und oft am Rande der materiellen Not lebte.
Das dreiteilige Werk dauert nur wenige Minuten. Trotz seiner die bisherige Klaviertechnik umstülpenden, auf alle gewohnten pianistischen Virtuoseneffekte verzichtenden technischen Schwierigkeiten ist es seine meistgespielte Komposition geworden.
Während der Eröffnungssatz noch an einem melisch durchhörbaren Motivspiel festhält, bringt der Mittelsatz (Sehr schnell, 2/4) impulsivere, rhythmisch-tokkatische Elemente ins Spiel. Er ist von scherzoser Agilität und von blitzender Eleganz und verlangt vom Spieler eine enorme Sprungtechnik, die in punktueller Manier fast jeden einzelnen Ton individuell artikulieren muß. Der 3. Satz (Ruhig fließend, 3/2) kann demgegenüber durchaus als eine Art reduktive Synthese der bisherigen Abläufe verstanden werden, weil in ihm die Idee des Variierens gleichsam zur intensivierten, einstimmig gebrochenen Linearität zusammengezogen erscheint.“