Sextett Nr. 1 B-Dur für zwei Violinen, zwei Violen und zwei Violoncelli, op. 18
Werkverzeichnisnummer: 379
1. Allegro ma non troppo
2. Andante ma moderato
3. Scherzo. Allegro molto – Trio. Animato – Tempo primo
4. Rondo. Poco allegretto e grazioso
JOHANNES BRAHMS begann sein kammermusikalisches Schaffen wie viele Komponisten mit Streichquartetten, doch hat er diese frühen Werke als Zeugnisse mangelnder Reife später vernichtet. Die ersten Stücke reiner Streicher-Kammermusik, die er veröffentlichte, waren seine beiden Streichsextette, op. 18 und 36. Obwohl die Verleger anfangs skeptisch waren, ob sich Werke dieser seltenen, von Luigi Boccherini erst um 1777 begründeten Gattung verkaufen würden, wurden die Sextette zu einem großen Erfolg. Neben dem Deutschen Requiem waren sie es, die dem jungen Brahms zum Durchbruch verhalfen. Während er selbst sie später als „lange, sentimentale Stücke“ geringschätzte, faszinieren sie heute noch das Publikum durch ihren unwiderstehlichen Klangreiz und ihre melodische Schönheit. In dem B-Dur-Sextett, op. 18, komponiert 1858-60, verbinden sich die meist vom 1. Cello vorgetragenen, lyrischen Melodien mit Anklängen an den „Volkston“, wie die Romantiker die Stilisierung von Stücken nach dem Vorbild der Volksmusik nannten. So findet sich im 1. Satz zwischen 1. und 2. Thema ein Übergangsthema in der fernen Tonart A-Dur, das den Charakter einer Walzerszene trägt. Der 2. Satz ist eine Folge von Variationen über ein archaisches Thema in d-Moll. Es weist einerseits zurück auf die barocke Follia, andererseits wirkt es im Klangcharakter ungarisch. Die letzten beiden Sätze entsprechen dagegen den klassischen Formkonventionen eines Beethovenschen Scherzos und eines gemächlichen Rondos.
JOHANNES BRAHMS war, als er 20jährig den engen Raum seiner Heimatstadt Hamburg verließ, das Idealbild eines jungen Genies: ein „schlanker Jüngling mit langem, blonden Haar und einem wahren Johanniskopf, dem Energie und Geist aus den Augen blitzten“, wie Franz Wüllner ihn beschrieb. Es war – neben der Originalität seiner frühen Klavierwerke – vor allem dieses Charisma eines Gesendeten, das dem jungen Hanseaten sofort die Bewunderung einer ganzen Reihe von bedeutenden Musikern eintrug.
Als erste musikalische Heimstätte von Brahms erwies sich dabei, mehr zufällig, das Rheintal. Denn 1853 unternahm er auf Schusters Rappen eine Rheinwanderung von Mainz bis Bonn, in deren Verlauf er die Gastfreundschaft bedeutender Mäzene genoß und wichtige Musiker kennenlernte. Erst durch diese Bekanntschaften ermuntert, faßte er den Entschluß, die Reise mit einem Besuch bei den Schumanns in Düsseldorf zu beenden, was dann zu jener denkwürdigen Begegnung führte, die Brahms durch Schumanns Artikel Neue Bahnen das Entrée in die musikalische Welt verschaffte.
Der Rhein spielte dann noch ein zweites Mal in der Etablierung des jungen Komponisten eine entscheidende Rolle, nämlich 1860 in der Entstehungsgeschichte des B-Dur-Streichsextetts. Brahms‘ frühe Karriere erfuhr durch das Leipziger Desaster seines 1. Klavierkonzerts 1857 einen Knick, der erst 1860 dadurch aufgefangen wurde, daß er bei dem Bonner Verleger Simrock einige Werke veröffentlichen konnte. Der Juniorchef des Hauses, Fritz Simrock, hatte Brahms bei einem neuerlichen Sommeraufenthalt des Komponisten am Rhein 1860 kennen- und schätzengelernt. Gegen den Widerstand seines Vaters erwarb er Brahms‘ neueste, schwer verkäufliche Kompositionen, zu denen sich aber bald das B-Dur-Sextett gesellte, um sich als Überraschungserfolg zu entpuppen.
Die Publikation des Sextetts 1862 ist das erste Datum eines breiten Brahms’schen Erfolgs, der sich dann endgültig mit dem Deutschen Requiem und den Ungarischen Tänzen einstellen sollte. Außerdem begründete das Sextett Brahms‘ Ruf als Meister der Kammermusik, der im Gegensatz zu seiner Position als Sinfoniker oder Liederkomponist stets unumstritten war.
„Rheinisch“ könnte man das Sextett auch in seinem musikalischen Gehalt nennen, denn das im Dezember 1859 begonnene Stück wurde während des Sommers 1860 am Rhein fertiggestellt – in Urlaubsstimmung sozusagen. Das Leben ging Brahms damals, wie er selbst bekannte, „so wonnig ein“ wie selten. Etwas von diesem Hochgefühl spiegeln die überschwenglichen Themen des Werkes wider, dessen erster Satz ein einziger, blühender Gesang zu sein scheint. Dahinter verbirgt sich freilich schon jene kompromißlose Arbeit mit kleinsten Motiven, die Brahms in den folgenden Jahrzehnten zum kompositorischen Prinzip erheben sollte.
Der satte Klang des Sextetts ist, wie so oft beim frühen Brahms, nicht ohne Mühe gelungen. Joseph Joachim, der berühmte Geiger, der den Sommer mit seinem Komponistenfreund verbrachte, stand mit Rat und Tat zur Seite und hat u. a. vorgeschlagen, das Hauptthema des ersten Satzes zuerst vom Cello vorstellen zu lassen. So kam der berühmte Beginn des Werkes zustande.
Den zweiten Satz in Variationenform hat Brahms auch für Klavier bearbeitet; das Klaviermäßige mancher Passagen ist nicht zu überhören. In dem Thema hat er auf raffinierte Weise Anspielungen auf deutsche Volkslieder mit einem ungarischen Einschlag verbunden. Seit Hamburg 1849 von ungarischen Emigranten überschwemmt worden war, gehörte die Zigeunermusik ja zu den charaktiristischen Elementen seiner Musik. Daher auch die zimbalartige Begleitung des Themas.
Zu Scherzo und Finale lohnt es sich, der Kurisotät halber, den Brahms-Biographen Max Kalbeck zu zitieren, dem hier rheinische Assoziationen kamen: „im übermütig losstampfenden Scherzo sind die losen Geister des rheinischen Weines entbunden“; das Finalrondo „steuert stromaufwärts mit einem Schiff voll lustiger Gesellen … es fährt sich doch auf dem Rhein nach Nonnenwerth und Rolandseck noch schöner als auf der Alster nach Uhlenhorst!“
1992:
Johannes Brahms galt den national denkenden französischen Komponisten am Ende des 19. Jahrhunderts als Inbegriff jener deutschen Instrumentalmusik, von der sie sich lösen wollten: ein Komponist, der sich bevorzugt in den abstrakten Formen der „absoluten Musik“ ausdrückte und seinen Gefühlsüberschwang hinter komplexer Kunst verbarg. Wie ungehemmt, ja geradezu schwärmerisch sich dagegen noch der junge Brahms 1860 in seinem ersten Streichsextett gegeben hatte, das hat nicht zuletzt ein französischer Kinofilm bewiesen: „Les amants“ mit Jeanne Moreau von 1958, für den Louis Malle das Sextett als Filmmusik benutzte. Wenn der alte Brahms das Werk später als „langes, sentimentales Stück“ verurteilte, so tat er es vielleicht auch deshalb, weil er glaubte, darin zuviel von sich selbst preisgegeben zu haben. In seiner Karriere war es der entscheidende Wendepunkt vom Skandal des ersten Klavierkonzerts zur breiten Anerkennung durch das Publikum.
Der erste Satz ist in der romantischen Kammermusik fast ohne Gegenstück, was das ununterbrochene Strömen herrlichster Melodien anbelangt. Man überhört dabei fast, wie kunstvoll die Motive auseinander abgeleitet sind, und auf welch souveräne kontrapunktische Weise sie verarbeitet werden. Das Andante besteht aus sechs Variationen über ein schwermütiges Thema, das von der ersten Bratsche vorgestellt wird. In den ersten drei Variationen steigert sich die Bewegung kontinuierlich bis zu wilden, wogenden Läufen im Baß. Danach erscheint das Thema in hymnischer Breite in Dur, wird in eine prickelnde Klangfläche aufgelöst und am Ende noch einmal vom ersten Cello angestimmt. Das Scherzo ist ein strahlender Tanz; sein Hauptmotiv taucht im Baß des Trios wieder auf. Das Rondo kehrt zur gemächlichen Bewegung und zum breiten Gesang des ersten Satzes zurück.
2003:
JOHANNES BRAHMS
Streichsextett B-Dur, op. 18
Als musikalisches Grußwort an den Frühling ist das 1. Streichsextett von Johannes Brahms von unübertrefflicher Wirkung, zumal in rheinischen Gefilden. Der 27jährige Komponist hat es 1860 während einer Rheinreise vollendet – natürlich im Frühling, inspiriert von der lieblichen, blühenden Landschaft des Rheintals bei Bonn. In der üppigen Farbenpracht des Streicherklangs, in seiner Melodienseligkeit und seiner tänzerisch-schwingenden Lebensfreude steht es in Brahms´ Kammermusik fast einzig da – ohne die Beschwernisse und melancholischen Brechungen späterer Werke.
Das B-Dur-Sextett war das erste Werk reiner Streicherkammermusik, das Brahms drucken ließ. 20 jugendliche Streichquartette waren ihm vorausgegangen, die er sämtlich vernichtet hatte. Erst in der üppigen Besetzung mit zwei Violinen, zwei Bratschen und zwei Celli konnten sich sein konstruktiver Elan und Klang-sinn ohne nagende Selbstzweifel entfalten – auf einem Terrain, auf dem Mozart und Beethoven nicht schon unerreichbar Scheinendes vorgegeben hatten.
Überbordende Fülle des wehmütigen Streichermelos ist das Merkmal des B-Dur-Sextetts, blühende Landschaften des Klangs, wie man sie wohl nur im Streichsextett mithilfe der beiden Celli erzielen kann. Das Leben ging Brahms damals, wie er selbst sagte, „so wonnig ein“ wie selten. Etwas von diesem Hochgefühl spiegeln die überschwenglichen Themen des ersten Satzes wieder, der ein einziger Gesang zu sein scheint. Dahinter verbirgt sich freilich schon jene kompromisslose Arbeit mit kleinsten Motiven, die Brahms in den folgenden Jahrzehnten zum kompositorischen Prinzip erheben sollte. So legt das scheinbar unbekümmert um sich selbst kreisende Hauptthema des ersten Satzes den motivischen Grund für die weitere Ausarbeitung. Erst auf den Rat seines (Geiger-)Freundes Joseph Joachim hin vertraute Brahms das Thema den Celli an. Dazu gesellt sich, überraschend nach A-Dur ausweichend, ein gemütlicher Ländler der Violinen über Pizzicato, von dem erste dramatische Impulse ausgehen. Sie münden in eines der schönsten Gesangsthemen, die Brahms jemals geschrieben hat. Kaum würde man erwarten, was diese drei selig singenden Melodien an motivisch-thematischem Potential enthalten, wie uns Durchführung und Coda beweisen.
Der zweite Satz in Variationenform beruht auf einem eigenwillig strengen d-Moll-Thema, das seine Nähe zur barocken Follia nicht verleugnet. Anspielungen auf deutsche Volkslieder und ein ungarischer Einschlag sind wundersam darin verwoben, was den sich stetig steigernden Variationen zündende Kraft verleiht.
Scherzo und Finale ließen den Brahms-Biographen Max Kalbeck an „die losen Geister des rheinischen Weines“ und an ein „Schiff voll lustiger Gesellen“ denken. Dabei ist das Scherzo mindestens teilweise ungarisch inspiriert: Sein quicklebendiges Trio mischt sich mit Csárdás-Anklängen in den rheinischen Reigen des Hauptteils ein, der – wie das Hauptthema des ersten Satzes – um ein Kernmotiv kreist. Triller und Pizzicato verleihen dem ganzen Satz den Klangcharakter eines im Sektglas moussierenden Musiktropfens. Zum Finale, einem Rondo von einiger Ausdehnung über ein mozartisch unschuldiges Thema, muss man nur zitieren, was Kalbeck begeistert notierte: „Es fährt sich doch auf dem Rhein nach Nonnenwerth und Rolandseck noch schöner als auf der Alster nach Uhlenhorst!“ Wer würde dem hierzulande widersprechen?