“Ilmenau” – “Wanderers Nachtlied” (Goethe)
Werkverzeichnisnummer: 3764
2002
CHARLES IVES
Deutsche Lieder
Was einen jungen amerikanischen Komponisten um 1895 dazu bewogen haben mag, Lieder über berühmte deutsche Gedichte zu schreiben, würde man kaum verstehen, wüsste man nicht, dass das Bildungsideal der großen amerikanischen Universitäten sich damals an klassischen Beispielen aus Europa orientierte. Eine amerikanische “Nationalmusik” war noch nicht erfunden, das Studium der großen deutschen Romantiker allenthalben erwünscht.
1894-98 studierte an Yale University ein junger Mann, der später als großer Nonkonformist die amerikanische Musik begründen sollte: Charles Ives. Sein Professor an Yale, Horatio Parker, hatte eine weit traditionellere Vorstellung vom Studium der Musik, als es seinem unkonventionellen Studenten lieb sein mochte. Er hielt Ives dazu an, deutsche Lyrik im Stil des romantischen Kunstlieds zu vertonen. Dabei wurden stets solche Texte ausgewählt, die zuvor schon von den großen Meistern des deutschen Lieds bearbeitet worden waren.
Scheu vor diesen klassischen Mustern zeigte Ives keineswegs. Allein unsere Auswahl von sechs Liedern enthält vier Beispiele von Klassikern des deutschen Liedrepertoires (Leise zieht durch mein Gemüt, Ich grolle nicht, Guten Abend, gute Nacht und Wanderers Nachtlied), die Ives ohne Schüchternheit neu vertonte.
Manche dieser Vertonungen können sich vom Vorbild kaum lösen: Ich grolle nicht wirkt wie eine seltsam sklavische Neufassung von Schumanns Deklamation dieses Heine-Gedichts, gepaart mit impressionistisch angehauchter Harmonik. Von der psychologischen Tiefe des Schumann-Liedes ist diese Vertonung denkbar weit entfernt. Sie macht allzu deutlich, dass Ives deutsche Lieder nur aus den Partituren kannte, nicht aus ihrem Umfeld. Er gehörte nicht zu jenen “100 oder mehr amerikanischen Musikstudenten”, die man in Leipzig “jederzeit” antreffen konnte, wie 1890 John Griggs meinte. Ives’ Lieder sind deutsche Romantik aus der Retorte.
Einfühlsamer und feiner wirken unscheinbare Stimmungsbilder wie Wanderers Nachtlied, wo sich in den seltsamen “Amerikanismen” der Harmonik eine ganz andere Ausdruckswelt auftut als etwa in Schuberts Vertonung. Die spezifische Sentimentalität der Broadway-Songs wird hier schon greifbar. Bei Parallelvertonungen zu Brahms ist zu bedenken, dass Ives seine ersten Lieder noch zu Lebzeiten des Hamburger Meisters geschrieben hat. Ein “Fin de siècle”-Tonfall im Dunstkreis brahmsscher Harmonien ist ihm nicht zufällig aus der Feder geflossen. Von Ives’ späterer Berufung zum Ahnherrn der Avantgarde und großen Respektlosen ist in diesen romantischen Liedstudien noch nichts zu spüren.