Histoires Naturelles (Naturgeschichten)
Fünf Gedichte von Jules Renard
Werkverzeichnisnummer: 3757
Le Paon (Der Pfau)
Le Grillon (Die Grille)
Le Cygne (Der Schwan)
Le Martin-Pêcheur (Der Eisvogel)
La Pintade (Das Perlhuhn)
2002
MAURICE RAVEL
Histoires naturelles
Unser Programm beginnt in Paris, jener Metropole, die neben Wien zur Hauptstadt des europäischen Fin de siècle und unmittelbar danach zum brodelnden Zentrum der Moderne wurde. An der Schnittstelle zwischen beiden Epochen schrieb der damals 31-jährige Maurice Ravel 1906 seinen kleinen Liederzyklus nach Tiergedichten von Jules Renard: die Histoires Naturelles, die Naturgeschichten. Uraufgeführt wurden sie 1907 in der Societé nationale de Musique, die für den Aufschwung der französischen Musik seit Ende der 1870er Jahre wesentlich verantwortlich war.
Mit 16 Minuten Spieldauer sind Ravels fünf Lieder typisch für die gedrängte Kürze der französischen Liedkunst, in ihrem beschaulichen Inhalt charakteristisch für den Komponisten, der am Lied vor allem eine Nuance schätzte: “subtile und preziöse Bilder und Stimmungen in kleine, prägnante Formen zu fassen, die man eher deskriptiv als lyrisch nennen möchte” (Werner Oehlmann). Preziös ist an den Histoires naturelles schon die poetische Vorlage, die Jules Renard 1895 mit liebevollen Absichten in die Welt gesetzt hatte. Am liebsten wäre es dem Dichter gewesen, die Tiere selbst hätten seine Texte lesen und darüber lächeln können. Denn nicht der Menschen zuliebe hatte er diese Tierporträts gedichtet, sondern um den Tieren zu gefallen.
Ravel musste diese Absicht imponieren: das Zärtliche war sein Fach auch im Lied. Und so nahm er sich vor, hier die Musik ganz “vom Wort führen zu lassen”. Das Ergebnis war eine Parlando-Melodie, eine wie gesprochen wirkende Musik, die ein Freund Ravels mit der Gestik des Komponisten selbst in Verbindung brachte: “Wenn Ravel eine jener messerscharfen Bemerkungen fallen ließ, deren Geheimnis er allein kannte, machte er dazu eine ganz charakteristische Bewegung: er ließ rasch seine rechte Hand hinter seinem Rücken verschwinden, vollführte eine Art ironischer Pirouette, senkte die Lider seiner boshaft blitzenden Augen und ließ seinen Satz abrupt mit einer Quarte oder Quinte nach unten enden. In den Histoires naturelles oder in L’Heure espagnole begegnet man auf Schritt und Tritt diesen charakteristischen Wendungen. Das ist Ravels Stimme, seine Aussprache, es sind Ravels vertraute Besonderheiten, die diese quasi-parlando-Melodie erzeugt haben.”
Was die Klavierbegleitung betrifft, ist hier auf engem Raum das gesamte reife Stilspektrum des Komponisten vereint. Anlehnung an die pompöse “französische Ouvertüre” des Barock charakterisiert im ersten Lied den eitlen Pfau, der zu einem Glissando sein Rad schlägt. Es nützt ihm nichts. An seinem Hochzeitstag wartet er vergeblich auf seine Braut: “La fiancée n’arrive pas” – sie kommt nicht! Spielerisch gibt sich das zweite Lied, in dem die Grille sich als “fleißiges Heimchen” (Arbie Orenstein) betätigt. Mit einem Schlüssel zieht sie ihre Uhr auf, um sie abends zirpend ablaufen zu lassen. Der Schwan gleitet im dritten Lied nicht minder imposant über die Wellen als im Karneval der Tiere von Saint-Saëns, nur dass Ravel dieses Wellenstück ironisch bricht, dort, wo Renard den gefräßigen Schönling mit einer fetten Gans vergleicht. Le Martin-Pêcheur, der Königsfischer, der sich majestätisch auf der Angel des Fischers niederlässt, ist im “bedeutendsten Stück des ganzen Zyklus” dargestellt, durchzogen “von einigen der kompliziertesten und einfühlsamsten Akkorde Ravels” (Orenstein). La Pintade, das Perlhuhn, sorgt für ein witzig-hektisches Finale. Im dissonanten Martellato des Klaviers und mit einem “rageusement” überschriebenen Schrei wird dieser Vogel hinreichend charakterisiert.
Als Ravel diesen Zyklus komponierte, stand er sozusagen den der Schwelle seiner Meisterwerke. Einige heute besonders populäre Stücke waren damals schon komponiert (Pavane, Streichquartett, Miroirs), in den beiden Jahren nach 1906 sollten die Rhapsodie espagnole und der Gaspard de la Nuit folgen.