"Warum toben die Heiden", op. 78,1 | Kammermusikführer - Villa Musica Rheinland-Pfalz

Felix Mendelssohn-Bartholdy

"Warum toben die Heiden", op. 78,1

„Warum toben die Heiden“, op. 78,1, Psalm 2, 1843

Besetzung:

Werkverzeichnisnummer: 3706

Satzbezeichnungen

Erläuterungen

2005 Rhein Vokal

Über Felix Mendelssohn
Bartholdy

Felix Mendelssohn ist einer der wenigen Komponisten, die aus reichen Verhältnissen stammen. Die sorgfältige Erziehung, die seine Eltern ihm angedeihen ließen (er wurde von den besten Lehrern unterrichtet und erhielt vor allem durch Privatlehrer eine umfassende Bildung, die Mathematik, Geschichte, alte und neue Sprachen, Zeichnen und Musik ebenso umfaßte wie Turnen, Schwimmen und Reiten. Zudem hatte er Gelegenheit zu ausführlichen Bildungsreisen), wird ihm bis heute geradezu zum Vorwurf gemacht. Gönnerhaft wird immer wieder das Bild einer Gewächshauspflanze, die nur unter diesen idealen Bedingungen so weit gedeihen konnte, in Stellung gebracht und mit der Beurteilung seiner Musik vermischt. Vom „Allzuglatten“, „Gefälligen“, „Leichten“ ist da immer wieder die Rede, von der „Assimilation an Bestehendes“. Da wird Sekundärliteratur wieder und wieder recycled und damit Unreflektiertes oder gar antisemitisch Gefärbtes fortgeschrieben.

Tatsache ist, dass Felix Mendelssohn Bartholdy der erste Komponist der Musikgeschichte ist, der ein neuzeitliches Geschichtsbewusstsein hatte. Alle Komponisten vor ihm setzten sich nahezu ausschließlich mit der Produktion ihrer Zeitgenossen auseinander. Wenn Mozart oder Bach ältere Werke aufführten, so taten sie dies aus der Perspektive ihrer Zeit – ihre Bearbeitungen sind daher vor allem Modernisierungen und Anpassungen an den Zeitgeschmack. Anders Felix Mendelssohn: Er besuchte Bibliotheken, um dort unbekannte Werke alter Meister zu suchen und zu studieren. Bach und Palestrina kannte er natürlich aus dem Kontrapunktunterricht, aber auch mit den Werken von Komponisten wie Allegri, Schütz, Lasso, Vivaldi oder de Victoria war er im Gegensatz zu seinen Zeitgenossen vertraut. Aus dieser Kenntnis der Vergangenheit entstand bei ihm ein Bewusstsein um die Geschichte und Traditionen einer Werkgattung – und dieses Bewusstsein bedeutete für ihn zugleich die Verpflichtung, sich in seinem eigenen Komponieren dieser Tradition zu stellen. „Mendelssohn konnte nicht naiv komponieren, er mußte reflektieren, weil er dazu erzogen worden war. Er war der erste Komponist, der sich in seinem Schaffen dem Druck des Erbes zweier Jahrhunderte zu stellen hatte. Dass er ausserdem aufgrund weiterer, anders gerichteter ästhetischer Reflexionen in besonderem Maße dazu ausersehen war, innovativ zu wirken, machte seine schöpferische Arbeit zu einem höchst komplexen Prozess, der zudem, auch aufgrund gesellschaftlicher Bedingtheit, zu Ergebnissen von stark divergierender Zielsetzung führte“, erläutert Arndt Richter in seiner Mendelssohn-Biographie. Für keinen der Bach-Söhne war die Meisterschaft Johann Sebastian Bachs ein Problem, da dieser schon eine Generation später als unmodern galt – sehr wohl aber für Mendelssohn, der die Berechtigung seines Tuns selbstkritisch an dem maß, was andere schon vor ihm geleistet hatten. Er fühlte sich umgeben von Giganten: auf dem Gebiet der Sinfonik war das Beethoven, auf dem Gebiet der Bühnenmusik Mozart und auf dem Gebiet der geistlichen Musik Bach.

„Und dass ich gerade jetzt mehrere geistliche Musiken geschrieben habe, das ist mir ebenso ein Bedürfnis gewesen, wie’s einen manchmal treibt, grade ein bestimmtes Buch, die Bibel, oder sonst was, zu lesen, und wie es einem nur dabei recht wohl wird. Hat es Aehnlichkeit mit Seb. Bach, so kann ich wieder Nichts dafür, denn ich habe es geschrieben, wie es mir zu Muthe war, und wenn mir einmal bei den Worten so zu Muthe geworden ist, wie dem alten Bach, so soll es mir umso lieber sein. Denn du wirst nicht meinen, dass ich seine Formen copire, ohne Inhalt, da könnte ich vor Widerwillen und Leerheit kein Stück zu Ende schreiben,“ schrieb er von seiner Reise nach Wien und Rom 1830/31 an Eduard Devrient. Eines der geistlichen Werke, die auf dieser Bildungsreise entstanden, ist die Choralmotette Mitten wir im Leben sind.

Mitten wir im Leben op. 23,3

Der achtstimmigen Motette liegt ein Choral von Martin Luther zugrunde. Mendelssohn versucht hier den alten Choral mit seinen archaischen Wendungen zu einer Synthese zwischen dem romantischen Ausdrucksbedürfnis und seinem Ideal einer Kirchenmusik zu bringen, die ganz rein, untheatralisch sein müsste und dabei dennoch das Innere erheben sollte. Zu seinen größten Eindrücken von der Kirchenmusik in Rom gehörte jener Augenblick, als nach stundenlangem Psalmodieren der gesamte Chor einsetzte und endlich ein vollständiger Akkord zu hören war: „Dieser Anfang und der allererste Klang haben mir eigentlich den meisten Eindruck gemacht … Nach der Stille kommt ein schön gelegter Akkord; das thut ganz herrlich und man fühlt recht innerlich die Gewalt der Musik.“ Dieser Moment ist auch in Mendelssohns Motette ganz unmittelbar erfahrbar: Die Lutherische Choralmelodie ist zunächst in schlichten und archaisierenden Harmonien gesetzt und bleibt dicht am Original, bis sie nach zwei Zeilen in groß angelegte Fermaten mündet. Die plötzlich weit gespreizte Lage dieser Fermatenakkorde mit Oktavierungen in die Höhen der Soprane und die Tiefe der Bässe bewirkt eine unwillkürliche Emphase, die auf den Hörer geradezu körperlich wirkt und beeindruckt (bis heute macht sich die Musik des Hollywoodschen Gefühlskinos diesen Effekt zunutze).

Wenn sich dann im weiteren Verlauf der Motette freiere Themenbildungen kontrapunktisch verzahnen, gibt dies Raum für eine Meditation, ein „Lauschen ins eigene Innere“. Dies war für Mendelssohn in diesen frühen Jahren eine wesentliche Funktion „gottesdienstlicher“ Musik, die er sonst nur von altitalienischer Vokalpolyphonie erfüllt fand.

Die Deutsche Liturgie

Die Komposition einer Deutschen Liturgie für den protestantischen Gottesdienst ist 1848, also beinahe zwanzig Jahre später, entstanden. Sie war ein Auftrag des preußischen Königs, der Mendelssohn über mehrere Jahre hindurch drückte und den er erst erledigte, als er die Dienste des Königs verlassen wollte.

Seinem Begleitschreiben an den König hört man die Qual noch deutlich an: „Übersende ich beifolgend meine Komposition der vollständigen Liturgie, welche ich dem Auftrage seiner Majestät gemäß geschrieben habe. Wegen der Verschiebung dieser Sendung muß ich die Entschuldigung aus meinen vorigen Briefen wiederholen. Auch war die Aufgabe für mich keine leichte, und ich wollte sie nicht gern obenhin, sondern so gut als mir nur irgend möglich lösen.“ Hintergrund dieser Komposition war, dass Mendelssohn 1842 vom preußischen König zum „General-Music-Direktor“ von Berlin ernannt worden war, um die kirchliche und geistliche Musik in Berlin zu gestalten. In erster Linie aber sollte Mendelssohn die preußische Kirchenmusik erneuern – und der König hatte sehr konkrete Vorstellungen davon, wie diese aussehen sollte. Er wollte „guten, echten Chorgesang hören, d.h. gregorianischen, mit Compositionen im Kirchenstile, alten und neuen“. Das aber war für Mendelssohn, der nach dem Zeugnis seiner Zeitgenossen Mängel oder Fehler in der Konzeption oder Partitur eines Musikstückes so untrüglich erkannte wie kein zweiter, so leicht nicht getan. Schon 1935 hatte er in einem Brief an seinen damaligen Dienstherrn, den Prediger Belzig in Düsseldorf über dieses Problem nachgedacht: „Eine wirkliche Kirchenmusik, d.h. für den evangelischen Gottesdienst, die während der kirchlichen Feier ihren Platz fände, scheint mir unmöglich, und zwar nicht blos, weil ich durchaus nicht sehe, an welcher Stelle des Gottesdienstes die Musik eingreifen sollte, sondern weil ich mir überhaupt diese Stelle gar nicht denken kann… bis jetzt weiß ich nicht, auch wenn ich von der preußischen Liturgie absehe, die alles derartige abschneidet, und wohl nicht bleibend oder gar weitergehend sein wird, wie es zu machen sein sollte, dass bei uns die Musik ein integrierender Theil des Gottesdienstes, und nicht blos ein Concert werde, das mehr oder weniger zur Andacht anrege.“ Damals behalf er sich mit der Aufführung altitalienischer Musik von Palestrina, Allegri, Baini, Lotti oder Leonardo Leo, die er in den Bibliotheken der benachbarten Städte aufstöberte und an der er schätzte, dass sie sich ganz in die katholische Liturgie einordnete und zum funktionalen Teil des Ganzen wurde „wie die Kerzen, der Weihrauch…“. Für seine eigene Musik aber war ihm solch eine funktionale Rolle, die ganz auf musikalische Ausdruckskraft verzichtete, indiskutabel. Es waren also geradezu unvereinbare Gegensätze, die Mendelssohn für die Komposition dieser „Deutschen Liturgie“ zu vereinen sich vorgenommen hatte.

Er hat sie mit einer Musiksprache gelöst, die unterschiedlichste Kompositionsprinzipien der Alten Musik von der doppelchörigen Struktur der venezianischen Schule bis zum motettischen, polyphonen und homophonen Satz (der die Vokalmusik von Schütz bis Bach prägte) auf souveräne Art verbindet und zu etwas Eigenem, Zeitgenössischem verwandelt. Dabei vermeidet Mendelssohn wortausdeutende Effekte und setzt statt dessen auf wohlkalkulierte Kontraste in Besetzung, Lage und Kompositionsstil. Es gelingt ihm, und dies ist ein historisches Verdienst, eine Kirchenmusik zu finden, die in den melodischen Bildungen, in den Proportionen und klanglichen Entwicklungen das Ideal von klassischer Schönheit und Ausgewogenheit erfüllt, und dabei den romantischen Ausdruck auf die klangliche Ebene verlagert. Mendelssohn hat alle Teile der Liturgie komponiert. Im heutigen Konzert singt das SWR Vokalensemble Stuttgart nur die großen, in sich geschlossenen Sätze Kyrie, Gloria und Sanctus – die übrigen Teile bestehen nur aus wenigen Takten und sind nur im Zusammenhang eines Gottesdienstes aufführbar.
Drei Psalmen op. 78

Neben der „Deutschen Liturgie“ hatte Mendelssohn in seiner Zeit als „General-Music-Direktor“ in Diensten des preußischen Königs etliche Psalmvertonungen und sakrale Werke geschrieben, die dem a-cappella-Ideal des preußischen Königs entsprachen (das Mendelssohn übrigens nicht teilte, er hätte lieber für Chor mit Orchester geschrieben), darunter auch die achtstimmigen Psalmen op. 78. Aufgeführt wurden sie von dem „königlichen Hof- und Domchor“, der anfänglich aus 70 Knaben- und Männerstimmen bestand, einem eigens für die neue preußische Kirchenmusik gegründeten Elite-Chor, dessen Leitung zu Mendelssohns Aufgaben gehörte.

In den „Drei Psalmen op. 78“ macht Mendelssohn intensiven Gebrauch von psalmodierender Textbehandlung, wie überhaupt die Wortakzente, also die Textverständlichkeit, eine weitaus größere Rolle spielen als in seinen Psalmkantaten (für Chor und Orchester). Anders als Franz Liszt etwa oder erst recht die Spätromantiker verzichtet Mendelssohn auf direkte Textausdeutung: Stimmungen oder gar Worte und Phrasen komponiert er nicht aus, auch eine Tonsymbolik, mit denen viele seiner Zeitgenossen ihre Kompositionen effektvoll schmücken, findet sich in diesen Psalmvertonungen nicht. Wie leicht wäre zum Beispiel bei Psalm 22 „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen“ eine dramatische Wirkung zu erzielen, die die zweifelnde Zerrissenheit dieser Seele in den Vordergrund stellt. Stattdessen arbeitet Mendelssohn mit den einfachsten Mitteln und erreicht dennoch – oder gerade deshalb – eine Einheit und Reinheit des Stils, die im 19. Jahrhundert selten ist.

Dorothea Bossert