„Venus Mater“, op. 11,4 (Richard Dehmel)
Werkverzeichnisnummer: 3700
2005 RheinVokal
Felix Mendelssohn Bartholdy hat sich der Nachwelt eher als der Komponist von Liedern ohne Worte fürs Klavier als von Liedern mit Worten eingeprägt. Dabei hinterließ er mehr als 100 Werke für Singstimme und Klavier. Dass seine Lieder heute so selten aufgeführt werden, mag mit ihrer ursprünglichen Aufführungssituation zusammenhängen – dem privaten Rahmen der bürgerlichen Hausmusikkultur. Zudem spielte das Kunstlied für Mendelssohn nicht die zentrale Rolle wie etwa für Schubert. Und auch seine kompositorische Prägung hatte Anteil daran, dass seine Gesänge als nicht so persönlich und radikal im Gefühlsausdruck empfunden wurden wie die seines gleichaltrigen Freundes Schumann.
Mendelssohn stammte aus einem wohlhabend-gebildeten jüdischen Elternhaus und erhielt bereits als Kind eine so umfassende Musikausbildung, dass er sich ohne Phasen des Suchens und Zweifelns früh als Komponist und Interpret etablieren konnte. Seine Lehrer waren unverkennbar noch dem 18. Jahrhundert verhaftet. So brachte Carl Friedrich Zelter, der enge Goethe-Freund, seinem Schüler Mendelssohn eine Liedästhetik nahe, die auf Sangbarkeit und Popularität zielte. Wesentlich war dabei eine eingängige, ungekünstelte, in der Regel symmetrisch gebaute Melodie, die sich auf der Basis eines nicht allzu kühnen harmonischen Fundaments auch in Strophenliedern dem Gehalt unterschiedlicher Texte anpasste. In den beiden Suleika-Liedern nach dem Westöstlichen Divan etwa erzielt Mendelssohn zwar durch die durchlaufende Klavierbegleitung eine einheitliche Gesamtstimmung – in op. 34 erwartungsvoll-sanft, in op. 57 bewegter -, bleibt aber insgesamt klassisch-zurückhaltend. Im Vergleich dazu scheint Schubert der Liebessehnsucht und dem Trennungsschmerz der Texte von Marianne von Willemer, Goethes nimmermüder Briefpartnerin und Muse, in seinen Vertonungen näher zu kommen.
Eines der bewegendsten Lieder Mendelssohns ist das Nachtlied auf das Eichendorff-Gedicht „Vergangen ist der lichte Tag“. Das Klavier schlägt einen festen, synkopierten Rhythmus an, der an Glockenschläge gemahnt. Auch die Singstimme bewegt sich scheinbar ruhig, doch ihre fallenden, chromatisch geschärften Gänge verraten, dass das im Text beschworene Gottvertrauen angesichts Vergänglichkeit und Verlust hart erkämpft ist. 1847, unter dem Eindruck des frühen Todes seiner geliebten Schwester Fanny, überarbeitete Mendelssohn das zwei Jahre zuvor komponierte Lied nochmals. Es sollte sein musikalisches Vermächtnis sein – sein letztes, einen Monat vor dem eigenen Tod vollendetes Werk.
„Ach Clara, was das für eine Seligkeit ist, für Gesang zu schreiben; die hatte ich lange entbehrt. Wie mir dies alles leicht geworden, kann ich dir nicht sagen, und wie glücklich ich dabei war. Meistens mach ich sie stehend oder gehend, nicht am Klavier. Es ist doch eine ganz andere Mu-sik, die nicht erst durch die Finger getragen wird – viel unmittelbarer und melodiöser.“ Diese Zeilen schickte Robert Schumann seiner Braut Clara Wieck im Februar 1840, als er sich gerade von einer tiefen Depression und Schaffenskrise erholte. Vorausgegangen waren gescheiterte journalistische Projekte, entwürdigende Auseinandersetzungen mit Claras Vater, der ihm die Eheerlaubnis gerichtlich verweigern wollte, sowie künstlerische und emotionale Unstimmigkeiten zwischen ihm und Clara. Geradezu manisch wandte sich Schumann, der bis dahin fast ausschließlich für Klavier kompo-niert hatte, 1840 dem Gesang zu und schrieb in gut einem Jahr mehr als 120 Sololieder. Diese Vehemenz ist schwer erklärlich. Noch im Vorjahr hatte er bekannt, dass er Gesangskompositionen der Instrumentalmusik unterordne und „nie für eine große Kunst gehalten habe“. Frauenliebe und -leben entstand in nur zwei Tagen im Juli des Jahres, zweifellos in der Gefühlsaufwallung kurz vor Bekanntgabe des Urteils. Das Gericht entschied zu Schumanns Gunsten, und die Hochzeit konnte einen Tag vor Claras 21. Geburtstag stattfinden.
Unter den Liederzyklen nimmt Frauenliebe und Leben eine Sonderstellung ein: Hier wird eine Liebesgeschichte ausnahmsweise einmal aus weiblicher Perspektive erzählt. In acht Gedichten spannt der Dichter Adalbert Chamisso einen großen Lebensbogen: Eine junge Frau ergibt sich zunächst in selbstvergessenes Verliebtsein. Als ihre Gefühle erwidert werden, schwelgt sie im Glücksrausch von Verlobung, Ehe, Mutterschaft, der erst durch den frühen Tod des geliebten Mannes jäh beendet wird. Aus heutiger Sicht der Frauenemanzipation mag eine solche auf Ehe-mann und Kind reduzierte Lebenserfüllung überholt bzw. als männliches Wunschdenken erscheinen. Doch die Schilderung schwärmerisch hingebungsvoller Liebe brachte Schumanns Liedern im 19. Jahrhundert große Beliebtheit ein, und ein Lied wie Er, der Herrlichste von allen
erlangte fast volksliedhafte Popularität.
Das traditionelle Rollenbild der Gedichte sollte dem Hörer jedoch nicht den Blick für den Gestaltungsreichtum der Musik verstellen.
Kontinuierlich wechselt Schumann zwischen innig-langsamen und leidenschaftlich bewegten Tempi und Ausdrucksgesten, bringt die Abfolge der einzelnen Lebensstationen in einen lebendigen Rhythmus. Gleichzeitig schlägt er einen großen Bogen vom ersten Blick bis zum Schmerz über den Tod des Geliebten: Das gemessene Sarabanden-Metrum (mit dem Schwerpunkt auf der zweiten Taktzeit) des ersten Liedes greift er zum Schluss im instrumentalen Nachspiel wieder auf. Und die Tonart B-Dur im 1., 5. und 8. Lied verankert Anfang, Mitte und Ende des Zyklus auf einem festen harmonischen Fundament.
Darüber hinaus verleihen anspielungsreiche Details dem Ganzen eine persönlich biografische Note: ein Motiv im vierten Lied, das als eine Art „Ring-Figur“ verstanden werden kann; ein Hochzeitsmarsch im Nachspiel des tänzerisch beschwingten Helft mir, Schwestern und die Klavierbegleitung im selben Lied, die sich auf Widmung bezieht – den Auftaktgesang aus dem Zyklus Myrten, den Schumann seiner Frau zum Hochzeitstag zueignete.
Im Schaffen des jungen Richard Strauss spielen Lieder eine maßgebliche Rolle, auch wenn sich sein Ringen um die Balance von Wort und Ton mit fortschreitenden Jahren zunehmend auf die Oper verlagerte. Entstanden in der Zeit bis zur Jahrhundertwende über 100 Klavierlieder, so schrumpft diese Zahl in den restlichen fünf Lebensjahrzehnten auf weniger als die Hälfte. Doch letztlich rückten für Strauss Lied und Oper enger zusammen, als es zunächst scheint. Immer wieder betonte er, wie sehr seine Inspiration von einem Text abhänge: „Ich habe monatelang keine Lust zum Componieren gehabt; plötzlich eines Abends nehme ich ein Gedichtbuch zur Hand, blättere es oberflächlich durch; es stößt mir ein Gedicht auf, zu dem sich, oft bevor ich es nur ordentlich durchgelesen habe, ein musikalischer Gedanke findet: ich setze mich hin; in 10 Minuten ist das ganze Lied fertig.“
Strauss‘ detailbesessenes Feilen an der Kongruenz von Wort und Ton ist in der Zusammenarbeit mit herausragenden Textdichtern wie Hofmannsthal vielfach belegt. Allerdings müssen es nicht immer hochrangige Texte sein, die seine musikalischen Quellen in Fluss bringen. Oft genügen einzelne Worte und Bilder, die Motive und Melodien freisetzen. Auch die Mädchenblumen-Texte des Juraprofessors und Romanciers Felix Dahn zählen eher zu den fragwürdigeren Liedtexten. Kritiker gingen soweit, den Autor des Kampfs um Rom wegen seiner sentimentalen Lyrik als „infelix“ Dahn zu verspotten. In den vier Gedichten zu Strauss‘ op. 22 vergleicht der Autor weibliche Eigenschaften wie sanfte Milde, glutvolle Spritzigkeit, innige Hingabe und ätherisch-geheimnisvolle Verzauberung mit Kornblume, Mohn, Efeu und Wasserrose. Aber die ebenso bemühten wie kitschigen Metaphern sollten das Urteil über die Musik nicht zu sehr beeinträchtigen.
Dem 23-jährigen Strauss gelingen Miniaturen, die durch und durch vom Fin de siècle geprägt sind und zugleich seine persönliche Weiterentwicklung ankündigen: Vermeint man zu Beginn der Wasserrose das Oszillieren impressionistischer Klänge zu vernehmen, so steigert sich das Lied im weiteren Verlauf immer mehr in die silbrigen Sphären des Rosenkavaliers. Fein ausgesponnene Legatolinien in Epheu verweisen auf die bittersüße Melancholie des Spätwerks. In den Mohnblumen klingt in überraschenden Melodieführungen wie in Sprüngen und Sforzati der Begleitung der Witz Hugo Wolfs an, gleichzeitig deutet die koloraturenselige Koketterie schon auf Zerbinetta und ihresgleichen voraus.
Obwohl nahezu gleichaltrig und gleichermaßen herausragend begabt, hegten Hans Pfitzner und Strauss wenig gegenseitige Wertschätzung und Sympathie füreinander. Pfitzner mokierte sich über Strauss‘ außerordentliche schöpferische Produktivität. Umgekehrt konterte Strauss sarkastisch, als Pfitzner einmal über einen langwierigen Schaffensprozess klagte: „Warum gebn’S das Komponieren net auf, wenn’s Ihnen so schwer fällt?“ Dabei verdanken sich Pfitzners akribischem Gestaltungswillen einige der originellsten, bis in die letzten Verästelungen durchgestalteten Kunstlieder überhaupt, die der heutige Konzertbetrieb leider allzu sehr vernachlässigt.
Pfitzners intensive Hinwendung zu Eichendorff mag um die Jahrhundertwende unzeitgemäß erscheinen, doch wird er der Lyrik dieses Erzromantikers womöglich mehr gerecht als alle seine Vorgänger einschließlich Schumann, Wolf und Strauss. In dem frühen Lied Die Einsame (1895) schildert er still und verhalten die träumerische Entgrenzung des Einswerdens in der nächtlichen Natur, ohne sich in Wortausdeutungen zu verlieren.
Dass Pfitzner handwerklich alles „drauf hatte“, was es zu einer augenzwinkernden Parodie bedurfte, beweist die Rokoko-Imitation Sonst. Das Eichendorff-Gedicht liefert die Vorlage zu einer kleinen dramatischen Dialogszene, wobei der Komponist die konventionell züchtige Gavotte des Beginns zusehends belebt. In einem bildhaften Glissando lässt er Cupidos Pfeil sirren, um den galanten Konversationston spöttisch zu durchbrechen.
In wieder andere Ausdrucksbereiche stößt er in dem emphatischen Venus mater vor, das die träumerische Verzückung von Liebeserfüllung und Mutterglück in einen opulenten, reich arpeggierten Klaviersatz bettet. Und die moderne Harmonik der etwas spröden Klavierbegleitung in Unter der Linden, einem Minnelied Walthers von der Vogelweide, zeigt Pfitzners tonale Sprache ganz auf der Höhe der Zeit: wobei er gleichzeitig mittels leerer, harmonisch offener Klänge, Wechseln zwischen geraden und ungeraden Metren und streng syllabischer Melodik aufs Mittelalter anspielt…
Anne C. Schneider