„Passio Domini nostri Jesu christi secundum Joannem“
Werkverzeichnisnummer: 3689
2005 RheinVokal
PASSIO
Wer sich Arvo Pärts Johannespassion hörend nähert, muss alles hinter sich lassen, was er aus Bachs Passionen an Hörerfahrung mit bringt. Der Vertonung liegt der lateinische Text des Johannesevangeliums aus der Vulgata zugrunde. Es findet keinerlei Übertragung in eine Landessprache und auch keinerlei Interpolierung neuer, deutender Texte statt. Was sich vollzieht, ist so rituell und selbstverständlich wie die jährliche Passionslesung im Gottesdienst. „Objektiv“ wie der lateinische Passionstext wirkt auch die Musik, denn sie enthält sich jeglicher affektiven Deutung des Geschehens. Alle Klänge sind im Rahmen eines tonalen und rhythmischen Systems prädisponiert. Es gibt keinen vordergründigen Zusammenhang mit den Worten, keinerlei „Text-Ausdeutung“. In der Haltung puren Rezitierens und der ständigen Wiederkehr gleicher Wendungen gemahnt die Musik an den Psalmton, in der Askese der verwendeten Mehrklänge und Tonfolgen an mittelalterliche Musik.
Bei dem tief gläubigen estnischen Mönch Arvo Pärt hat all dies seinen weltanschaulichen Hintergrund, doch bevor es darum gehen soll, seien zunächst die äußeren Fakten zu seiner Passio zusammengefasst: 1982, kurz nach Pärts Übersiedlung in die Bundesrepublik entstanden, machte die Passion den Komponisten rasch berühmt. Ihre archaische Musiksprache und die spirituelle Aura, die sie umgab, ragten wie ein erratischer Block aus der Vielfalt der postmodernen Musikströmungen heraus. Nicht zuletzt dank des Hilliard Ensemble wurde Pärts Passionsklang zum Kultobjekt. Man feierte die statische Qualität dieser Musik, ihren fast hypnotischen Verzicht auf alle dramatischen Ausbrüche und Wendungen anderer Passionen, ihre tiefe Ruhe und minimalistische Reduktion.
Für Pärt typisch ist der reduzierte Aufführungsapparat: Ein Bassist als Jesus und ein Tenor als Pilatus sind die einzigen Solopartien im herkömmlichen Sinn. Ein Solistenquartett übernimmt die Rolle des Evangelisten – in stets wechselnder Stimmenanzahl und Lage. Dem Chor fallen alle anderen Rollen der Passion zu, ob es sich nun um Volksmengen oder um eine Magd, einen Knecht oder Petrus handelt. Vier Melodieinstrumente (Oboe, Fagott, Violine und Violoncello) und eine Orgel bilden das gesamte „Orchester“, das in keiner Weise selbständig agiert, sondern klangfüllend und echoartig die Musik der Singstimmen verdoppelt.
Innerhalb dieses minimalistischen Rahmens gibt es dennoch klare Rollenverteilungen: Der Solobass singt die Jesusworte deutlich langsamer, in feierlich-gedehnten Notenwerten als die anderen „Sprecher“; er wird von einer Orgel begleitet. Seine Tonalität kreist um E, die des Evangelistenquartetts um A, die von Pilatus um F und H. In der langen Szene des Verhörs vor Pilatus, die den Kern der Johannespassion bildet, prallen diese Sphären aufeinander. Hier lässt auch der rasche Wechsel zwischen den beiden Solisten, dem Quartett und dem Chor trotz allem Zurückweichen vor musikalischer Deutung den dramatischen Puls der Passion schneller schlagen.
Die Eingangsworte „Passio Domini Nostri Jesu Christi secundum Joannem“ werden in wuchtigen Chorakkorden gesungen, fast wie ein Eingangschor. Dem Schluss der Passionsgeschichte, die mit Jesu Tod endet und nicht bis zur Grablegung weitererzählt wird, schließt sich ein kurzes Gebet an, das in einem wundervollen, lebensbejahenden D-Dur-Akkord endet. So entsteht trotz aller Askese und bewusst vermiedener Wort-Ton-Beziehung dennoch ein Gefühl für das Monumentale und menschlich Berührende der Passionsgeschichte – das, was Pärt „Demut“ nennt.
Dies liegt auch daran, dass Pärts Musik selbst einen Leidensgestus ausstrahlt. Die unaufgelösten Dissonanzen, besonders auf starken Taktzeiten und zu Beginn von Phrasen, die in sich kreisenden Floskeln, die immer wieder zu Zentraltönen zurückkehren, die Vorliebe für Molldreiklänge und kirchentonale Wendungen kreieren eine Art „Passionston“, der nicht auf dieses eine Werk beschränkt bleibt, sondern fast alle Werke Pärts seit 1980 durchzieht.
Ganz unabhängig vom Text herrscht ein Tonfall „enigmatischer Sorge“ vor: „Was immer die Intention des Stückes sein mag, viele seiner Werke spiegeln die Trauer wider, die Maria und die Jünger empfanden, als Jesus vor ihnen gekreuzigt wurde.“ (David Pinkerton) Dieser Leidensgestus paart sich mit dem schon erwähnten Eindruck der Askese: „Da gibt es keine flammende Geste und kein Element von Bravour, nur eine nach Innen gewandte Strenge, die in unvergleichlicher Weise die Stimme Gottes selbst zum Ausdruck bringt.“ (Pinkerton) Die Musikkritik hat gerade diese Paarung aus Leidensgrundton und Strenge als das Zeitgemäße an Pärts Passion gedeutet. In einer Welt voll täglichen Grauens, aber ohne eindeutig christliche Weltsicht bedürfe man einer „Inszenierung“ der Passion Christi nicht mehr.
Das Irritierendste beim Hören von Pärts Passion ist vielleicht ihre ständig um sich selbst kreisende Bewegung. Die Texte werden streng syllabisch gesungen – auf jede Silbe kommt nur eine Note. Textwiederholungen finden so gut wie nie statt, die melodischen Figuren zu den schlicht deklamierten Texten kommen mit ganz wenigen Tönen aus. Ebenso eingeschränkt und als „Modi“ fixiert sind die Rhythmen, ja selbst die Pausen.
Pärts eigene Bemerkungen zu diesem eigenwilligen Musizieren kreisen um Begriffe wie „Stille“ und „Schönheit“: „Ich arbeite mit sehr wenigen Elementen: mit einer Stimme, mit zwei Stimmen. Ich baue mit den allereinfachsten Mitteln, einem Dreiklang, einer tonalen Färbung … Musik muss durch sich selbst existieren … zwei, drei Noten.“
Erwachsen ist dieses Ideal der Reduktion aus dem gregorianischen Choral, der in Pärt ein Umdenken auslöste: „Als ich zum ersten Mal gregorianische Musik hörte, war das wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Alles, was ich jetzt schreibe, kann man sagen, ist eine Reflexion dieser plötzlichen Erfahrung, dass die Wahrheit in ihrem Kern so einfach ist. Wir denken, es gibt so etwas nicht. Das sind aber nur unsere blinden Augen und unsere tauben Ohren,“ sagte Pärt in einem Interview zur
Passion.
Diesen Umgang mit einem beschränkten Tonreservoire hat er mit der mittelalterlichen Technik der „Tintinnabuli“ in Verbindung gebracht. Wörtlich sind damit aufeinander abgestimmte Schellen gemeint, im übertragenen Sinne eine Form der Verinnerlichung, wie sie Mönche anwandten, um zu sich selbst zu kommen: „Tintinnabuli sind ein Bereich, in den ich manchmal wandere, wenn ich nach Antworten suche – in meinem Leben, in meiner Musik, in meiner Arbeit. In meinen dunklen Stunden habe ich das bestimmte Gefühl, dass alles außerhalb einer einzigen Sache keine Bedeutung hat. Komplexe und vielseitige Dinge verwirren mich, und ich muss nach Einheit suchen. Was ist diese eine Sache, und wie kann ich meinen Weg dorthin finden? Spuren davon zeigen sich, und das Unbedeutende bricht weg. So sind Tintinnabuli.“
Auch Pärts Passion ist ein Ausdruck dieser Geisteshaltung und dieses Suchens nach dem Kern in einem einzigen Punkt.
Karl Böhmer