„Muschellied“
Werkverzeichnisnummer: 3687
2005 RheinVokal
Lichter der Großstadt
Man mag den Beginn der Moderne mit Freuds psychoanalytischer Traumdeutung ansetzen, mit den abstrakten Bildern Kandinskys oder mit den expressionistischen Werken Schönbergs: Fest steht, dass jener Umbruch von einer Verlagerung der künstlerischen Schauplätze begleitet wurde, von einer neuen Verortung, die Hölderlins vielzitierter Satz „Komm ins Offene!“ treffend charakterisiert: Die Maler verließen ihre Ateliers, um im Freien zu arbeiten (so die Impressionisten); die Literaten (etwa Emile Zola) suchten Sujets auf der Straße, oftmals in sozialen Brennpunkten. Und auch die Musiker bemühten sich, neue Spielräume zu erschließen – außerhalb von Konzertsaal und Opernhaus, fernab der bürgerlichen Kulturtempel.
Ein zündendes Beispiel für diese Tendenz ist Kurt Weills 1928 geschriebenes Foxtrottlied Berlin im Licht, eine Auftragskomposition der Berliner Stadtwerke, die in ihrer gleichnamigen Großveranstaltung die Modernität und Lebendigkeit der Reichshauptstadt darstellen wollten. Weill, der gerade mit seiner Dreigroschenoper (nach dem Textbuch von Bertolt Brecht) schlagartig zu Weltruhm gekommen war, präsentierte zwei Fassungen seines Songs: Die eine hob der Schauspieler-Sänger Paul Graetz aus der Taufe: während einer Nachtrevue an der Kroll-Oper. Die andere aber – für Blasorchester – gelangte im Rahmen eines „Konzerts mit nichtmilitärischer Musik für Militärorchester“ zur Uraufführung: in einer von Hermann Scherchen dirigierten Freiluftveranstaltung auf dem Wittenbergplatz.
Den Willen, ein größeres, aber auch anderes Publikum als im üblichen Konzertbetrieb zu erreichen, bekundet gleichermaßen Weills im Anschluss an seinen Opernerfolg entstandene Kleine Dreigroschenmusik für Blasorchester (die er später durch Streicher ergänzte). In den sieben Sätzen der Dreigroschenmusik, die insgesamt zehn Nummern des Bühnenwerkes verarbeiten, habe Weill „das Potpourri [aus seiner Oper] herausgehoben, das stets in ihr versteckt war“, kommentierte Theodor W. Adorno. Wenn man ein Potpourri als irrationales Nebeneinander von musikalischen Sätzen begreift, als eine Art surrealistischer Collage, kann man Adorno nur beipflichten.
Einer auf Händel verweisenden Ouvertüre, die Elemente aus Menuett und Fugato miteinander verschränkt, folgt ein Satz, in der sich die Moritat von Mackie Messer (das wohl populärste Stück der Oper) und die refrainartig eingestreute Ballade von der Unzulänglichkeit des menschlichen Strebens miteinander verbinden. Eine „künstlich-plumpe“ (Adorno) Bearbeitung des Anstatt-daß-Songs schließt sich an. Dann die Ballade vom angenehmen Leben: ein schäbiger Foxtrott, dessen verschrägte Harmonik immer wieder vom Netz der Tonalität aufgefangen wird – eine musikalische „Lüge“, die der Bigotterie des Textes kongenial entspricht. Nun gibt sich Polly, Mackies Braut, die Ehre: Die vorgetäuschte Ländlerseligkeit ihres Liedes (in harmonisch nicht abgesicherten Viertaktern) reagiert auf den Text: „Hübsch, als es währte, und nun ist’s vorüber“. Der Fadenscheinigkeit von Pollys Lied steht die Tango-Ballade (Zuhälterballade) mit ihrer verschmierten Chromatik nur wenig nach. Den alsbald erklingenden Kanonen-Song kleidet Weill zwar als Foxtrott ein, doch verwandelt er den Modetanz nach und nach in einen Marsch, von dessen maschinenhaften Rhythmen Bedrohung und Gewalt ausgehen.
Im Finale schließlich formieren sich die Melodien von Mackies Freudens- und Leidenszeit, so abermals Adorno, noch einmal zu einem Demonstrationszug: verstümmelt, beschädigt und abgenutzt und doch wieder aufrührerisch.
Wie Weill war auch der beinahe gleichaltrige Hanns Eisler in den zwanziger Jahren zu der Überzeugung gelangt, er müsse den Elfenbeinturm des romantischen Künstlers verlassen, um die gesellschaftliche Realität wahrzunehmen. Seine an Kollegen gerichtete Aufforderung, sie sollten endlich die Fenster öffnen, damit sie den Lärm der Straße hörten, kam er in seinem Werk vorbildhaft nach. Er komponierte einerseits – auf Texte von Bertolt Brecht, David Weber, Kurt Tucholsky oder Erich Weinert – neuartige politische Songs, sogenannte Kampflieder, die bald die Straßen des vorstädtischen Berlins und anderer Metropolen eroberten: etwa die Ballade vom Nigger Jim, das Solidaritätslied, Rote Melodie oder Das Lied vom SA-Mann. Andererseits benutzte er den dort erprobten Kampfstil auch in seiner Instrumentalmusik. Eislers 1933, zu Beginn seines Exils, geschriebene Filmmusik Dans les rues, die er wenig später in seine Suite für Orchester Nr.5 op.34 umarbeitete, kann man wie seine politischen Lieder als Bekenntnis zum „Asphalt der Großstadt“ verstehen. Die zweite, vierte und sechste Nummer der Suite (Intermezzo, Marsch und Andante eroico) kommen als Optimismus verbreitende „Mutmach“-Märsche daher, deren utopisches Potential durch das Zitat von Eislers 1929 komponierten Kominternlied noch eine Steigerung erfährt. Die eingestreuten Variationen, Musiken von zarter Traurigkeit, bilden sowohl zu den Märschen als auch zum ursprünglichen filmischen Geschehen einen dramaturgischen Kontrapunkt: kommentierte Eisler mit ihnen doch Szenen, die eine blutige Prügelei vorstädtischer Gangs zeigten.
Im Jahr 1979 vollendete Mauricio Kagel unter dem Titel Der Tribun eines seiner vielen Hörspiele. Es handelt von einem demagogischen Tyrannen – einer Gestalt, in der Hitler, Stalin, aber auch südamerikanische Diktatoren zusammenrinnen: Mit Hilfe lärmender Marschmusik und eigens präparierter Zuspielbänder, auf denen tosender Applaus zu hören ist, möchte sich der Politiker stimulieren, um in einer großen Rede Schlagworte wie „Ich bin euer Adler“ oder „Brot und Granit“ ans Volk zu bringen. Die Musik zu seinem Hörspiel veröffentlichte Kagel anschließend als 10 Märsche, um den Sieg zu verfehlen. Er habe sie komponiert, erläuterte er, obwohl er kaum in der Lage sei, Musik dieses Genres „mit Appetit“ zu schreiben: Sie könne sich nämlich „wirkungsvoll in den Köpfen jener einnisten, die Sprengköpfe zu verwalten haben“. Nun, Kagel hat alles getan, eben dies zu verhindern. Synkopen, die als Stolpersteine fungieren, Harmonien, die ins Leere laufen, aktionistische Rhythmen, die auf der Stelle treten, chromatisierte Melodien, die de- anstatt expressiv wirken – all das entlarvt Kagels Märsche als protzende Klangkulissen, deren Windigkeit und Pathos den hohlen Phrasen des Tribuns in nichts nachstehen.