„O bone dulcissime Iesu“
Werkverzeichnisnummer: 3683
2005 RheinVokal
PROPRIUM MISSAE
Zusätzlich zu den fünf Messteilen des Ordinarium Missae – Kyrie und Gloria zu Beginn, Credo vor der Pause, Sanctus im zweiten Teil und Agnus Dei am Ende – enthält unser Konzert noch acht weitere Vokalsätze: fünf Motetten von Dufays großem Nachfolger Josquin des Prez und drei Sätze aus den sogenannten Saint-Martial Manuskripten. Bei letzteren handelt es sich um 214 mittelalterliche Handschriften aus Aquitanien, die in der Abtei Saint-Martial in Limoges geschrieben oder zusammengetragen wurden. Sie dokumentieren die gregorianische Ein- und Mehrstimmigkeit in einem Teil Frankreichs zwischen ca. 1000 und 1150.
Die Saint-Martial-Gesänge und die Josquin-Motetten vertreten in unserem Programm das sogenannte Proprium Missae, die jahreszeitlich wechselnden Messgesänge wie Offertorium, Graduale, Hymnus und Psalm, die zwischen die unveränderlichen Messteile eingelegt werden. Alles in allem ergibt sich aus den drei Elementen des Programms eine Messe, wie man sie um 1500 an einer französischen Kathedrale durchaus hätte hören können.
DER NOTEN MEISTER
„Josquin ist der noten meister; die habens müssen machen, wie er wolt.“ Martin Luthers bewundernde Worte über Josquin des Prez sind die meist zitierten der vielen anerkennenden Sätze über den größten Komponisten der Hochrenaissance. Man treibt die Analogien zur Kunstgeschichte nicht zu weit, wenn man ihn den „Leonardo der Musik“ nennt. Seine Auftraggeber waren die selben wie die Leonardos: die Sforza in Mailand, der Papst in Rom, der französische König, die Este in Ferrara. Josquins Schaffen reicht weit ins Quattrocento zurück wie das Leonardos und bringt doch den entscheidenden Durchbruch zum „Sfumato“ des weichen Klangs, zu einer neuen Klarheit der Form und Plastizität der Stimmführung.
Revolutionär ist der neue Wortausdruck in seiner Musik, der direkt ans Gefühl des Menschen appelliert. Wenn bei Josquin die Sänger zum De Profundis oder Ave Maria anheben, sind die Phrasen einfach, ganz aus dem Wort heraus erfunden und unmittelbar ausdrucksvoll – das Gegenteil von Dufays spätgotischem „Knitterfaltenstil“. Rund, plastisch und in der Form vollendet treten uns seine Motetten entgegen.
Unsere fünf Beispiele führen gleichsam prototypisch zu den wichtigsten Wirkungsstätten und Schaffensphasen seines Lebens. Es muss vielleicht vorausgeschickt werden, dass Josquin im Gegensatz zu dem „Burgunder“ Dufay Franzose war. Er war jenseits der burgundisch-französischen Grenze geboren worden, vielleicht in dem Ort Prez unweit der Quellen des Flusses Schelde – daher sein Herkunftsname „des Prez“, der seinen bürgerlichen Namen Lebloitte alsbald verdrängte. Als Franzose hat er engste Beziehungen zum Königshaus unterhalten, insbesondere als junger Komponist um 1480 und nach seiner Rückkehr in die Heimat 1504.
Das De Profundis, Josquins Vertonung des Bußpsalms Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir, stammt aus der späten Zeit. Es enthält einen dreifachen Kanon – Symbol der Trauer dreier Staaten über einen verstorbenen Monarchen, wie eine Anmerkung auf einer römischen Abschrift verrät. Ob das Stück 1515 bei der Beerdigung von Ludwig XII. von Frankreich oder gar zur Beisetzung Kaiser Maximilians 1519 aufgeführt wurde, wissen wir nicht. Es bleibt ein monumentales Stück der Trauer, eine königliche Beisetzungsmusik.
40 Jahre früher hatte Josquin für den französischen Königshof seine Fassung der Ostersequenz Victimae paschali laudes geschaffen (protestantischen Gläubigen besser bekannt als Vorlage für Luthers Christ lag in Todesbanden). Hier hat er im Sopran vollständig die Chanson D’ung aultre amer seine Kollegen und Freundes Johannes Ockeghem zitiert, der damals in Paris wirkte. In den Unterstimmen setzte er dazu zeilenweise die Melodie der Ostersequenz – eine Kombination von zwei Melodien in unterschiedlichen Kirchentonarten, wie die Zeitgenossen bewundernd feststellten.
In die frühe französische Zeit um 1480 fällt auch die Motette O bone et dulcissime Jesu, ein rührendes Gebet an den Erlöser. Der Satz erinnert in seinen Duetten noch an die komplizierten Melismen und altertümlichen Kadenzen bei Dufay. Doch die Spätgotik des Nordens wandelt sich bereits allmählich in den Schönklang des Südens.
In Italien hat Josquin dann nur wenige Jahre später den neuen, schlichten Stil in Vollendung vorgeführt: in seiner Motette Tu solus qui facis mirabilia und im berühmten Ave Maria. Die einfachste aller Akkordfolgen steht am Beginn von Tu solus. Glasklarer Kontrapunkt aus schlichtesten Melodielinien, in vollkommener Einheit mit den Worten, eröffnet das Ave Maria. Im Dreiertakt des zweiten Teils leuchtet der Klang in neuer Fülle und Schönheit auf. Der Anruf des Schlusses O Mater Dei, memento mei ist in seiner schlichten Schönheit von entwaffnender Wirkung. Beide Werke schrieb Josquin um 1485 in Mailand für Kardinal Ascanio Sforza und Leonardos Gönner Ludovico il Moro. Hält man die Musik des Ave Maria gegen Leonardos frühe Verkündigung, so hat man die vollkommene Einheit aus Kunst und Musik im Mailand der anbrechenden Hochrenaissance.
Höhepunkt der hier versammelten Josquin-Werke ist die berühmte Motette Planxit autem David, die Vertonung der Klage des Königs David. 1504 gedruckt, entstammt sie wohl Josquins einzigem Jahr im Dienst des Herzogs Ercole d’Este in Ferrara 1503. Wie das große Miserere und die Missa Hercules Dux Ferrariae ist es von monumentaler Gliederung und eindringlicher Wortvertonung der biblischen Klage geprägt. Als „Krone unserer Kapelle“ pries ein Musiker aus Ferrara damals den Komponisten. Hier ist zu hören, warum. Karl Böhmer