Quintett G-Dur für zwei Violinen, zwei Violen und Violoncello, op. 111
Werkverzeichnisnummer: 370
1. Allegro non troppo, ma con brio
2. Adagio
3. Allegretto
4. Allegro assai
Mit seinem 2. Streichquintett in G-Dur, op. 111, sah Johannes Brahms sein Schaffen im Sommer 1890 für beendet an ? allzu voreilig, wie sich zum Wohle der Nachwelt bald herausstellen sollte. Seinem Verleger Fritz Simrock teilte er bei Übersendung des Quintetts kurzerhand mit, dies sei sein letztes Werk, weil es überhaupt Zeit sei aufzuhören. Der sicherlich entsetzte Simrock, der mit jedem neuen Brahmswerk gutes Geld verdiente, musste nicht lange auf einen Sinneswandel des Meisters warten. Dem Meininger Klarinettisten Richard Mühlfeld hatten er und die Nachwelt es zu verdanken, dass Brahms schon im Sommer 1891 wieder zur Feder griff und seine späten Klarinettenwerke in Angriff nahm.
Das G-Dur-Quintett wirkt wie ein Prolog zu diesen Stücken, insbesondere zum Klarinettenquintett, und es ist zugleich von deutlichen Spuren des Abschieds durchzogen. Brahms komponierte es in Bad Ischl, seiner Sommerfrische der späten Jahre. Beim Abschied von dem Kurort im Salzkammergut habe er, so ließ er Simrock wissen, “viel Notenpapier in die Traun geworfen”. Man vermutet, dass sich darunter auch die Skizzen zur 5. Sinfonie befanden, mit der Brahms Ende der 1880er Jahre schwanger ging, ohne sich letztlich dazu durchringen zu können. Das Gerücht, es sei Einiges von den sinfonischen Themen ins G-Dur-Quintett eingeflossen, konnte nicht bestätigt werden, hat aber angesichts des sinfonischen Charakters gerade des Kopfsatzes einiges für sich.
Vom geradezu überschwenglichen Hauptthema dieses Satzes abgesehen ist die Atmosphäre des Quintetts von zarteren Stimmungen geprägt, die von sanfter Resignation bis hin zu tiefer Trauer reichen. Eine Art melancholischer Heiterkeit und eine dem Csárdás abgelauschte Fröhlichkeit mischen sich ins vielgestaltige “Tongemälde” dieses vielleicht kontrastreichsten Streicherwerks von Brahms.
Es passt zum Charakter eines kompositorischen Schlussworts, als welches Brahms sein Opus 111 ja durchaus verstand, dass die Themen an die unterschiedlichsten Komponisten des 19. Jahrhunderts erinnern: von Richard Wagner über Johann Strauß bis hin zu Beethoven und Mendelssohn. Es drängt sich der Eindruck einer Synthese auf, einer Bilanz. Am Ende seines Lebens und seiner Epoche hielt Brahms in einem Kammermusikstück Rückschau auf ein ganzes Musikjahrhundert.
Das Cellosolo, mit dem der erste Satz Allegro non troppo, ma con brio beginnt, ist eines der längsten Themen, die Brahms geschrieben hat, eine Melodie, die sich von der tiefen Lage des Instruments bis in die extreme Höhe aufschwingt und den Eindruck erweckt, als könne sie sich nicht emphatisch genug aussingen. Arnold Schönberg hat voller Bewunderung beschrieben, wie die Harmonik im Verlauf dieses Themas “vagiert”, also die unterschiedlichsten Tonarten streift. Noch ein drittes Element neben der harmonischen Vieldeutigkeit und dem emphatischen Cellogesang prägt das Thema: es ist der “Vorhang” aus wogenden Terzen, den die vier höheren Streicher dem Cellosolo vorausschicken. Sie verleihen dem Thema einen dezidiert sinfonischen Charakter, weshalb Brahms auch darauf bestand, dass die Terzfiguren durchweg “forte” gespielt werden. Seine Freunde protestierten dagegen, allen voran Joseph Joachim, dem das Werk auf den Leib geschrieben war, ebenso Clara Schumann und Elisabet von Herzogenberg. Alle meinten, Brahms mache es dem “armen Cello” zu schwer, gegen die anderen durchzudringen, und schlugen ein Decrescendo vor. Der Meister blieb unerbittlich.
So rauschend und voller Elan das erste Thema daherkommt, so schnell macht es – mithilfe eines kraftvollen Terzabstiegs – der zweiten Themengruppe Platz. Sie gehört in eine ganz andere Welt, nämlich zu den schönsten Verneigungen von Brahms vor der Kunst seines Ischler Freundes Johann Strauß: das Thema besteht aus zwei wunderschönen Wiener Walzern. Den ersten stimmen die Bratschen an (im Forte!), der zweite, süßere liegt in den Geigen, von zarten Septvorhalten wehmütig durchzogen. Dabei sind die Taktakzente so raffiniert verschoben, dass hinter den Straußschen Melodien der Rhythmiker Brahms zum Vorschein kommt. In den Tremoli der Schlussgruppe wird eine dritte, wild zerfahrene Motivebene eröffnet. Wie Brahms diese drei so gegensätzlichen Themen im folgenden verwandelt und zur Synthese gebracht hat ? in schwebendem Klangzauber zu Beginn der Durchführung, in unerbittlichem Kontrapunkt in ihrem weiteren Verlauf, in zartester, kanonartiger Überlagerung in der Coda ?, das zählt zu den unvergesslichen Momenten seiner Kunst. Nur am Rande sei erwähnt, dass alle Themen des Satzes, das Cellosolo, die Walzer und die Schlussgruppe, auf ein und demselben Terzfallmotiv beruhen. Erst in der Coda hat Brahms diesen Zusammenhang aufgedeckt, indem alle Terzmotive in einer Art permanentem Kanon in eines zu verschmelzen scheinen, bevor das Hauptthema das kraftvolle Schlusswort spricht.
Das “wunderbar knappe Adagio”, wie es Joseph Joachim nannte, gehört zu den tief innerlichen Sätzen in der Kammermusik von Brahms. Es steht in d-Moll, wird aber nach dem Vorbild ungarischer Volkslieder nach d-Moll-Dorisch umgedeutet. Auch im Klang umweht den Satz unüberhörbar eine ungarische Aura: Tremoli, die an den Klang des Zymbals erinnern, kleine, rhapsodische Soli, Pizzicati und herrliche Vorhalte verleihen ihm eine unter Brahms? Werken einmalige Klanglichkeit. Der Satz beginnt mit einer Art Motto, dem Viertonmotiv f-a-gis-e, das von der ersten Bratsche im Duktus eines Klagelieds angestimmt wird. Es wird geprägt von der klagenden kleinen Sekund und dem quasi ermatteten Zurücksinken auf das e. Mit trauriger Beharrlichkeit durchzieht es den Satz, gefolgt von feierlichen Akkorden in eigenwilliger Harmonik. In Duktus und Ausdruck erinnert das Motiv an die Themen der langsamen Sätze im ersten Rasumowsky-Quartett von Beethoven und im zweiten Streichquintett von Mendelssohn, womit eine klassisch-romantische Tradition der Elegie bezeichnet ist, an die Brahms hier anknüpfte. Seine Elegie ist mit “Zigeunerterzen” und Ornamenten im ungarischen Stil umkleidet, was man auch als Hinweis auf seinen ungarischen Geigerfreund Joseph Joachim verstehen könnte. Von ihm stammt nämlich die Tonfolge des Motivs, verbergen sich hinter den Tönen f-a-e doch die Initialen von Joachims Wahlspruch “Frei, aber einsam”. Man muss ihn in diesem Fall auf den alternden Brahms selbst beziehen ? als das persönliche Bekenntnis eines Vereinsamten, der seine Klage gleichsam objektivierend in die Form eines ungarischen Volkslieds kleidet. Im Laufe des Satzes wird dieses Lied frei variiert, stetig sich steigernd und klanglich auf Schönste angereichert, wobei aber die Dynamik durchweg zurückhaltend bleibt. Erst kurz vor Schluss entlädt sich die aufgestaute Spannung in einem erschütternden Fortissimo-Höhepunkt: aus der höchsten Höhe eines mit Sekundvorhalten gesättigten Gesangs stürzt das Thema ab in wildes Tremolo, an dessen Ende nurmehr ein Bratschensolo übrig bleibt. Resigniert und kraftlos leitet es zur Kürzest-Reprise des Anfangs zurück.
Auch das Un poco Allegretto des dritten Satzes ist “all?ongarese” geschrieben. Sein g-Moll-Hauptteil verkehrt die Klage des Adagios in zarte Wehmut. Der Satz ist mehr ein Intermezzo denn ein Scherzo und schließt ans Adagio in subtilster Form an. Der Wiener Kritikerpapst Eduard Hanslick schrieb über diese feinen Übergänge zwischen den Sätzen beim späten Brahms und über die Reduktion seiner Melodik auf lakonische Gesten. Aus solchen, nämlich aus lauter Seufzern, ist die gleichsam scheue Geigenmelodie zusammengesetzt, die von nachschlagenden Figuren der Unterstimmen auf sanfte Weise vorangetragen wird. Im Trio leuchtet – durch Umdeutung des Schlussmotivs aus dem Hauptteil ? G-Dur hervor. In dauerndem Dialog spielen die Geigen und Bratschen einander ein einfaches Ländlerthema zu, indem sie es kontrapunktisch umkehren – ohne dass man von der Anstrengung eines Kontrapunkts auch nur etwas ahnte. Nach der Reprise des Hauptteils klingt dieses Vexierspiel aus dem Trio noch einmal kurz an.
Das Finale hat Brahms sozusagen bärbeißig beginnen lassen: mit einem aufgeregten Bratschenduett in der “unlustigen” Tonart h-Moll. Erst mit dem Einsatz der Geigen in strahlendem G-Dur und im Duktus eines ungarischen Volkstanzes wird der eigentliche Sinn des Satzes deutlich: er ist eine Huldigung an den Csárdás, dessen Zauber Brahms dank der Wiener Zigeunerkapellen restlos erlegen war. Dass er zu den Stammgästen der ungarischen Platzkonzerte im Prater gehörte, ist diesem Satz unschwer anzuhören, besonders in seiner grandiosen Coda. Zuvor freilich wird der Konflikt zwischen dem unruhigen h-Moll-Thema der Bratschen und der ungarischen Melodie in G-Dur der Geigen in strenger Sonatenform ausgetragen. Als zweites Thema mischt sich eine schlendernde Melodie ein, die Brahms dem Finalthema seines 2. Klavierkonzerts nachempfunden hat. In einer genialen Suspensio verschiebt sich die Lösung des Konflikts bis an den Rand der Coda. Dort bricht sich ? urplötzlich, Knall auf Fall wie ein Katarakt von streicherischer Urenergie -? ein Csárdás so rückhaltlos Bahn, dass dagegen kein kammermusikalisches Kraut mehr gewachsen ist. Der Humorist Brahms triumphiert im letzten Moment über die tiefen Schatten der Mittelsätze.