Missa „Se la Face ay pale“
Werkverzeichnisnummer: 3676
2005 RheinVokal
HERBST DES MITTELALTERS
Das 15. Jahrhundert, das die Italiener Quattrocento nennen, war das große Jahrhundert des Aufbruchs. Die Florentiner Frührenaissance setzte die Zeichen: Ghibertis Paradiestüren am Baptisterium, Brunelleschis Domkuppel, Donatellos Statuen an Or San Michele. Das neue Menschenbild der Renaissance brach sich nach 1425 unaufhaltsam Bahn – in einer Zeit, die der holländische Kulturwissenschaftler Jan Huizinga für das Europa nördlich der Alpen den „Herbst des Mittelalters“ genannt hat.
Aus dem Norden stammte die Musik der Renaissance, denn die Medici, Malatesta und Este holten sich die Sänger ihrer Hofkapelllen aus Burgund und Frankreich. Hier wurde die Musik der sogenannten „Niederländer“ geboren, unter der Sonne Italiens ist sie gereift. Was wir heute die „franko-flämische Schule“ nennen, lässt sich ebenso säuberlich in Generationen unterteilen wie die Kunst der italienischen Renaissance, und die Analogien stilistischer Art liegen auf der Hand. Guillaume Dufay war der Vater der „Niederländer“, wie Brunelleschi der Vater der Renaissance-Architekten war. Zu den Klängen einer Dufay-Motette wurde 1436 Brunelleschis Florentiner Domkuppel geweiht.
DER MOND DER MUSIK
Der Sänger und Komponist Gulliaume Dufay wurde wie der Architekt Brunelleschi von den Zeitgenossen in Metaphern gefeiert, die die Schönheit der Sphären beschwören: „Mond der Musik und das Licht aller Sänger“ hat ihn sein Kollege Compère genannt.
Der „Mond der Musik“ wurde kurz vor 1400 in Fay in der Dözese Cambrai geboren – daher sein Name „du Fay“, „aus Fay“. Als Kapellknabe an der Kathedrale von Cambrai begann er seine Sängerlaufbahn, die ihn an die bedeutendsten Höfe der Frührenaissance führen sollte: zu den Malatesta nach Rimini, zu den Medici nach Florenz, ins päpstliche Rom und nach Savoyen. Zum Sprungbrett seiner Karriere wurde das Konzil von Konstanz, das er im Gefolge des Bischofs von Cambrai 1417 /18 erlebte. Von dort führte der Weg zu den Malatesta, an einen der künstlerisch ambitioniertesten Höfe der Frührenaissance. Nach der Priesterweihe 1428 holte ihn Papst Eugen IV. in seine Kapelle. Im Gefolge des Heiligen Vaters, der sich in Rom politisch nicht halten konnte, verbrachte er die 1430er Jahre in Florenz im Exil.
Die Weihe des Doms von Florenz im März 1436 durch den Papst zu
Dufays Musik war ein Höhepunkt im Leben des Musikers. Weitere Stationen jener Jahre waren Savoyen, Ferrara und Bologna. Nach den Wirrungen des Konzils von Basel, wo Dufay die Absetzung des Papstes miterleben musste, zog es ihn nicht mehr in den Süden, sondern zurück in die Heimat. Seine päpstlichen Dienste waren mit reichen Pfründen in Laon und Tournai entlohnt worden. Außerdem wurde er sofort vom burgundischen Herzog Philipp dem Guten umworben und zum Kaplan ernannt. Die reichen Einnahmen aus diesen diversen Stellungen ermöglichten ihm einen ruhigen Lebensabend als Domherr in Cambrai, wo der hoch geachtete Komponist und Baccalaureus des kanonischen Rechts 1474 starb. Seinen Grabstein kann man im Museum in Lille bewundern.
Hinter diesem kurzen Lebensabriss verbirgt sich so mancher politische Sprengstoff des bewegten 15. Jahrhunderts: das Konzil von Konstanz, durch welches zwar das Schisma der Kirche beendet, aber neue Wunden aufgerissen wurden, die auch das Konzil von Basel nicht heilen konnte; die noch unsichere Position der Päpste nach ihrer Rückkehr in die Ewige Stadt; der Aufstieg der Medici und die bunte Vielfalt der Renaissancehöfe, an denen sich ehemalige Condottieri dem „dolce vita“ und den Künsten hingaben; der Fall von Konstantinopel 1453. All dies hat Dufay in seiner Musik kommentiert, illustriert und untermalt.
ORDINARIUM MISSAE
Als sich Dufay wieder nach Cambrai zurückgezogen hatte, begann er, sich systematisch mit den Möglichkeiten der Messe zu beschäftigen. Es ging um die Frage, wie man die fünf Teile des Ordinarium Missae – Kyrie, Gloria, Credo, Sanctus und Agnus Dei – zyklisch sinnvoll gliedern konnte. Ab 1450 verwendete er dazu einen sogenannten Cantus firmus, eine bereits existierende Melodie als Achse und motivisches Grundgerüst jeder seiner Messen.
In der Missa „Se la face ay pale“ griff er auf einen dreistimmigen weltlichen Gesang auf Französisch zurück, den er um 1435 am Hof von Savoyen komponiert hatte. Den Tenor dieser Chanson – eine weich fallende Linie im Dreiertakt – benutzte er nun, 15 Jahre später, als Cantus firmus seiner neuen Messe. Wesentlich für ihre Konstruktion sind zwei Momente: der Wechsel zwischen Duetten und Tutti und die planmäßige Steigerung des Cantus firmus.
Alle Sätze außer dem Kyrie beginnen zweistimmig – mit einer freien Variante der Chansonmelodie. Der Cantus firmus setzt jeweils etwas später ein, im Gloria etwa beim „Adoramus te“. Der zweistimmige „Motto-Beginn“ bereitet die vielen Duette vor, die den Ablauf jedes Satzes gliedern und musikalisch bereichern.
Auf höchst raffinierte Weise hat Dufay den Cantus firmus eingesetzt: In den langen Messteilen Gloria und Credo wird er jeweils dreimal vollständig gesungen, aber in immer kleineren Notenwerten, so dass eine Steigerung zum Ende jedes Satzes hin entsteht. Nur im Christe eleison, im Pleni sunt coeli, Benedictus und Agnus Dei II setzt der Cantus firmus aus.
Planmäßige Architektur mehr denn subjektiver Wortausdruck prägt diese Musik. Wo die Worte der Messe genau stehen, wie sie im einzelnen „ausgedrückt“ werden, ist kaum von Bedeutung. Wesentlich ist die Konstruktion am Cantus firmus entlang und die raffinierte rhythmische Spannung, die zwischen der Freiheit der Duette und den regelmäßigen metrischen Einschnitten entsteht. Der große amerikanische Renaissance-Forscher Howard M. Brown hat dies „eine der charakteristischsten und aufregendsten Qualitäten“ des späten Dufay genannt.