„Brilla nell‘ alma“ aus Alessandro, Arie
Werkverzeichnisnummer: 3661
2005 RheinVokal
Händel in Italien
Mit 21 Jahren kam Georg Friedrich Händel nach Italien – kam, sah und siegte. Dem Hallenser, den die Italiener „Il Sassone“ (Der Sachse) nannten, lagen trotz seiner Jugend die Musikmetropolen der Apenninenhalbinsel zu Füßen. Rom eroberte er mit Psalmen, Kantaten und Oratorien, Neapel mit einer Serenata, Florenz und Venedig mit Opern. Nach etwas mehr als drei Jahren im Lande, „wo die Zitronen blühen“, kehrte er 1710 im Triumph heim nach Deutschland. Mit sich brachte er unschätzbare musikalische Erfahrungen und nahezu hundert Kompositionen, deren Einfallsreichtum, Spontaneität und italienischer Flair noch heute so taufrisch wirken wie am ersten Tag.
Viele diese genialen Frühwerke Händels sind in unseren Konzertsälen nach wie vor selten zu hören, so auch die römischen und neapolitanischen Kantaten unseres Programms. Alan Curtis hat sie mit den drei Solisten und dem Ensemble Diana eigens für den heutigen Abend in Schloss Engers einstudiert. Sie erzählen von Schäferinnen und Schäfern, glücklichen und weniger glücklichen Liebesabenteuern.
Eine Schäfergeschichte
Die erste Nachricht, die wir über Händels Aufenthalt in Italien besitzen, entstammt dem Reisebericht eines französischen Kaufmanns aus Hanau, der auf seinen Handlungsreisen durch Europa im Januar 1713 auch nach Rom kam. Dort traf er bei einer musikalischen Gesellschaft im Hause zweier Kastraten am 13. Januar 1707 den jungen Händel, der am Cembalo so verteufelt gut spielte, dass die abergläubischen Römer dachten, der Leibhaftige sei am Werk. Den Dreispitz, den Händel lässig unter den Arm geklemmt hatte, hielten sie für einen Zauberhut. Der Deutsche und der Franzose lachten herzlich über die abergläubischen Katholiken in der Stadt der Päpste, doch just mit diesem Abend begann Händels Aufstieg in die höchsten Kreise Roms.
Schon einen Monat später ist er mit dem Marchese Ruspoli, dem damals wichtigsten nicht-geistlichen Mäzen der Stadt, zu einem Jagdausflug an die Küste aufgebrochen. Im April beendete er sein gewaltiges Dixit Dominus für eine der großen römischen Kirchen, im Mai sein erstes Oratorium, zu Pfingsten reiste er mit dem Marchese Ruspoli erneut aufs Land, im Juli vollendete er seine Vespermusik für die Karmeliter.
In diesen Monaten hektischer Betriebsamkeit komponierte er auch seine Kantate Aminta e Fillide. Hinter dem italienischen Titel verbergen sich antike Schäfernamen: Amintas und Phyllis, unverzichtbare Gestalten in den musikalischen Schäferspielen des barocken Rom. Seit eine Gruppe von Gelehrten und Dichtern 1690 die Accademia degli Arcadi, die „Akademie der Arkadier“ gegründet hatte, war das sagenhafte Schäferland der griechischen Antike am Tiber zu neuem Leben erwacht. Bald trafen sich in den „Club-Meetings“ der Arkadier die wichtigsten Kardinäle, Dichter und Musiker der Stadt, um gemeinsam einem Thema nachzusinnen: der Liebe in all ihren Schattierungen. Die Schäfernamen, die man sich als Pseudonyme zulegte, um Klassenschranken aufzuheben, zeugen davon, dass mit den Liebesspielen der jungen Paare in den Kantaten der Arkadier in Wahrheit deren Mitglieder selbst gemeint waren.
Dank seiner Gönner fand sich Händel bald im Mittelpunkt der arkadischen Gesellschaft wieder. Der Marchese Ruspoli wurde im Sommer 1708 der neue „padrone“ der Arkadier. Zu ihrer ersten Zusammenkunft unter seiner Leitung ließ er Händels Aminta e Fillide aufführen – übrigens in exakt der gleichen Besetzung wie heute abend, wie wir aus den Rechnungsbüchern des Marchese wissen: zwei Sopranistinnen, vier Violinen (bzw. ein Bratscher) und Basso continuo. Das schon im Vorjahr komponierte Stück hatte Händel zu diesem festlichen Anlass um zwei Arien vor dem Schlussduett erweitert. Alan Curtis hat sich für die knappere Erstfassung von 1707 entschieden.
Wie so oft in den Schäferkantaten der Arkadier geht es um verschmähte Liebe. Die Heldin Phyllis lässt Amintas abblitzen, denn die Liebe bedeutet ihr nichts, ihre Freiheit dagegen alles – eine echte Römerin. Die Beharrlichkeit des Amintas freilich bricht nach und nach Breschen in den Wall ihrer moralischen Überzeugungen – steter Tropfen höhlt den Stein. Am Ende kann sie doch nicht widerstehen: Amor hat seinen Pfeil sicher plaziert, und schon erglüht im Herzen der Nymphe das versengende Feuer der Liebe, während Amintas triumphiert. Nach einer Kette bewegter Arien und Rezitative vereinen sich beide Stimmen zum Duett.
Als Szenerie für dieses nur scheinbar harmlose Spiel zwischen zwei Hirten muss man sich den Garten der Arkadier mit seinen Fontänen und Kaskaden vorstellen, dessen Reste im heutigen Botanischen Garten der Stadt Rom ein trauriges Dasein fristen. Händels Musik fängt die duftige Atmosphäre dieses Parks in wundervollen Streicherklängen und mitreißenden Melodien ein. Einige davon hat er sich großzügig bei seinem Hamburger Kollegen Reinhard Keiser „ausgeborgt“, die meisten in seiner venezianischen Oper Agrippina 1709 wieder verwendet. Der Charme dieses venezianischen Meisterstücks ist nicht zum wenigsten Aminta e Filide zu danken.
Zu Beginn zeigt sich Händel als der geborene Opernkomponist. Auf die gravitätischen Rhythmen der Ouverture im französischen Stil folgt im Furioso eine der frühesten musikalischen Darstellungen des Sprints in der Musik: Phyllis läuft los und Amintas ihr nach. Mitten in die rasenden Läufe der Violinen hinein ruft er sein „Stop!“: „Arresta, arresta il passo!“ Die Arien, die die beiden einander im Eifer des Gefechts zuwerfen, sind von nicht zu überbietender Frische: Mal schwer-lastend im unisono, wenn von den Leiden des Amintas, mal leichtfüßig im Walzerschritt, wenn von der Freiheit der Phyllis die Rede ist. Wenn Amintas vom schönen Bach erzählt, singt er zu gitarrenartiger Begleitung eine Siciliana in e-Moll mit eigenwilligen orientalischen Harmonien, die an Pedrillos türkische Romanze in Mozarts Entführung aus dem Serail erinnern. Den Pfeil des Amor beschreibt Phyllis in einem Amoroso von trippelndem Schritt.
Händels Gönner Ruspoli durfte sich an der Partie der Phyllis besonders erfreuen: Händel hat sie der Haus-Primadonna des Marchese, Margherita Durastanti, auf den Leib geschrieben. Dieselbe hatte als Maria Magdalena in Händels Auferstehungsoratorium La Resurezzione an Ostern 1708 für einen handfesten Skandal gesorgt, da es Frauen strengstens verboten war, in Oratorien aufzutreten. Papst Clemens XI. erteilte dem Marchese daraufhin einen Verweis. In den Treffen der Arkadier dagegen konnte die Durastanti ihre stimmlichen wie weiblichen Reize ungehindert ausspielen.
Für die Partie des Amintas hat der Marchese im Kreise der Arkadier 1708 ebenfalls eine Sängerin eingesetzt: Anna Maria di Piedz. Ursprünglich hatte Händel diese Partie für einen Kastraten geschrieben, vermutlich für Pasqualino Tiepoli, in dessen Haus sich die denkwürdige „Zauberhut“-Geschichte abspielte.
Die Durastanti, später in London eine von Händels treuesten Opernsängerinnen, war Mezzosopran, Tiepoli dagegen Sopran, weshalb die Partie der Nymphe Phyllis in diesem Stück tiefer liegt als die ihres Sopran-Verehrers Amintas – eine typisch römische Konstellation.
Neapel sehen
Im virilen Neapel, der damals spanisch regierten größten Stadt Italiens, ließ man es bei der Kunst der Kastraten nicht bewenden: Hier wollte man richtige Männer in Liebhaber-Rollen hören, wie Händels neapolitanische Kantate Cuopre tal volta il cielo beweist.
Im Juni und Juli 1708, unmittelbar vor der arkadischen Aufführung von Aminta e Fillide, besuchte der „Sassone“ die Stadt am Fuße des Vesuvs, um eine kleine Oper für eine große Fürstenhochzeit zu schreiben: Aci, Galatea e Polifemo, seine erste Version der Geschichte um den eifersüchtigen Zyklopen Polyphem. Für den Bassisten, der in diese Rolle schlüpfte, schrieb Händel noch in Neapel die Basskantate unseres Programms.
Der Liebhaber in dieser kleinen Szene hat mit dem Zorn und der Ablehnung seiner Angebeteten nicht weniger zu kämpfen als sein römischer Kollege Amintas. Doch im männlich herben Ton seiner Bass-Stimme ziehen die dunklen Wolken auf dem Gesicht der geliebten Frau ungleich überzeugender auf als im ewigen Azurblau der hohen römischen Kastratenstimmen.
Naturgleichnisse prägen diese Kantate: Im einleitenden Rezitativ malt sich der Liebhaber einen Seesturm aus mit Blitz und Donner. In der folgenden Arie zieht das Unwetter in den Violinen vorüber, während er sie mit seinen eigenen Liebesqualen vergleicht. Schuld daran sei, so erfahren wir im zweiten Rezitativ, das ewig missmutige Gesicht der Geliebten. In der zweiten Arie wünscht er sich sehnlich, dass am Horizont seiner Liebe endlich das biblische Zeichen von Frieden und Versöhnung aufziehen möge: der Regenbogen. In schillernden Farben und wunderschönen Vorhalten zeichnen die Streicher das Bild des Regenbogens in die Luft.
Zwei Tage vor seiner Rückreise nach Rom hat Händel in Neapel das Trio Se tu non lasci amore beendet. Vermutlich war es für die drei Solisten seiner Acis und Galathea-Serenade bestimmt. Es handelt sich um ein dreistimmiges Gegenstück zu Händels Kammerduetten: ein kontrapunktisch dicht geflochtenes Netz von Stimmen über dem Basso continuo. Dass sie vor der Liebe warnen, ist weniger wichtig als die kontrapunktische Kunst, die sie ausüben. Der Schlussteil des Terzetts nimmt in seinem Thema den Schlusschor von Händels Oper Tamerlano vorweg.
Opernarien
Noch ein zweites Mal ist Händel in seinem Leben nach Italien gereist: 1729 als bereits gestandener Maestro, um Sänger zu engagieren. Nach dem unrühmlichen Ende der Königlichen Oper, deren Hauskomponist er acht Jahre lang gewesen war, hatte er sich entschlossen, eine Opernkompanie auf eigenes Risiko einzurichten. Die dafür benötigten Solisten hörte er sich sicherheitshalber selbst vor Ort an, kam aber nur bis Venedig. Die Einladung seiner alten römischen Gönner musste er aus politischen Gründen ausschlagen. In Rom hatte mittlerweile der „Old Pretender“ Jakob III. von England, der Kronprätendent aus dem Hause Stuart, seine Zelte aufgeschlagen. Ein Besuch Händels in Rom hätte sein Dienstherr, König Georg II., als Verrat ausgelegt. Wenige Monate in Venedig genügten ihm ohnehin, um eine spektakuläre neue Sängercrew anzuwerben. Ihre Stars waren der Kastrat Bernacchi, der Tenor Fabri und die Sopranistin Anna Strada del Po, eine Soubrette mit feiner, agiler Stimme, die auch Antonio Vivaldi in seinen Opern gerne eingesetzt hat. Für sie schrieb Händel die Partie der Adelaide in seiner Oper Lotario, die 1729 feierlich die erste Spielzeit seiner neuen Kompanie eröffnete.
Adelaides Scherza il Mar zeugt von den frischen italienischen Eindrücken des Komponisten: Das Spiel des Winds mit den Wellen, wie es der Deutsche vom Palazzo seines venezianischen Gastgebers John Smith aus hatte beobachten können, schildern die Streicher in einer an Vivaldi gemahnenden Manier. Die Strada, von der übrigens ein schönes Porträt im Händelhaus in London hängt, glänzte mit beweglichsten Koloraturen.
Nicht minder agil als die Strada war eine weitaus berühmtere Konkurrentin aus Venedig, die Händel 1726 nach London geholt hatte: Faustina Bordoni, besser bekannt als die Ehefrau des Komponisten Johann Adolph Hasse. Die schauspielerisch begnadete Sängerin hatte mit ihrer „sehr geschickten Kehle“ die Herzen und Ohren der Londoner im Sturm erobert. Ihr Debüt gab sie in der Rolle der Rossane in Händels Alessandro – eine Paraderolle für Faustina, die als Perserin Roxane den großen Alexander um den Finger wickelte. Brilla nell’alma ist der kokette Höhepunkt dieser Partie. Wie so vieles in Händels späterem Schaffen geht auch das Thema dieser Arie auf einen Einfall aus einer römischen Kantate zurück.
Karl Böhmer