„La Virtù“ in quatro parti
Werkverzeichnisnummer: 3654
2005 RheinVokal
Klänge des Olymp
Daphne und Diana, Orpheus und Apollo – der gesamte antike Götterhimmel bevölkert das italienische Programm von Maria Cristina Kiehr. Die Sopranistin aus Argentinien, die an der Seite von Montserrat Figueras ihre großartige Karriere begann, zeigt das göttliche Treiben zwischen Himmel und Hölle so, wie es sich die Komponisten des italienischen Barock vorstellten: von seiner allzu menschlichen Seite. Eifersucht und Verzückung, der Kampf um Macht und Liebe bewegten nicht nur die Gemüter der Sterblichen, vor allem, wenn sie in derart unvergleichliche Musik gesetzt sind. Das Seicento in seiner ganzen Pracht und sinnlichen Fülle – das muss nicht immer Monteverdi sein. Es gilt, so wohlklingende Komponistennamen wie Cataldo Amodei, Luigi Rossi oder Giovanni Felice Sances wiederzuentdecken.
Techtelmechtel, Eifersucht und Liebesschmerz
Aus der musikalischen
„Versuchsküche“
Das 17. Jahrhundert ist die Versuchsküche der Musikgeschichte. Nie zuvor gab es eine solche Fülle an musikalischen Experimenten: Kompositorische Ideen werden ausprobiert, weiter-entwickelt, verfeinert und dann nicht selten wieder verworfen; Altes und Neues steht unvermittelt nebeneinander. Die Lust an der Klangpracht, an instrumentaler und sängerischer Virtuosität wirbelt die vormals klar definierten Gattungen durcheinander. Die Musik der Zeit will beim Zuhörer Ergriffenheit und Erschütterung hervorrufen, will ihn sogar zu Tränen rühren. Dafür entwickeln die Komponisten neue expressive Ausdrucksmöglichkeiten und bisher unerhört kühne Harmonien – wenn es der Textausdruck rechtfertigt, werden dabei auch die altehrwürdigen kontrapunktischen Regeln lustvoll ignoriert.
Die Entstehung der Oper um das Jahr 1600 ist die Initialzündung und gleichzeitig Dreh- und Angelpunkt der Entwicklungen. Ihr wichtigstes Anliegen ist es, die menschlichen Affekte zum Klingen zu bringen – ein musikalisches Abbild dessen zu geben, was im Innersten der Seele vor sich geht: Liebesbrennen, Neid und Eifersucht, Verlust, Verzweiflung und Verzückung. Für die frühe Oper bieten besonders die Stoffe aus der griechischen und römischen Mythologie eine unerschöpfliche Fundgrube an Themen.
Francesco Cavalli war eine Schlüsselfigur für die frühe Oper. Er lebte und arbeitete in Venedig, im Dunstkreis von Claudio Monteverdi. „Hauptberuflich“ war er Organist an der Markuskirche, später Kapellmeister. 1639 unterschrieb er am ersten kommerziellen Opernhaus Venedigs, dem Teatro San Cassiano, einen Vertrag, der ihn verpflichtete, gemeinsam mit anderen Künstlern als Investor, Organisator und Komponist Opernabende zu veranstalten – übrigens unterschrieb er genau an dem Tag, als er an San Marco das Organistenamt antrat. Bald wurde Cavalli zum gefragtesten Opernkomponisten Venedigs, und sein Ruhm reichte weit über Italiens Grenzen hinaus. 1640 schrieb er für das Teatro San Cassiano die Oper Gli Amori d’Apollo e di Dafne (Die Liebschaften von Apollo und Daphne). In der Arie Musica, dolce Musica besingt die Titelheldin die Schönheit und den göttlichen Ursprung der Musik.
Um das Wesen und die Wunderwirkungen der Musik geht es auch in Giulio Caccinis Euridice, einer der Opern der allerersten Stunde. Ihr Sujet ist eines der beliebtesten in der frühen Oper: Der antike Mythos des göttlichen Sängers Orpheus, der mit seinem Gesang die wilden Tiere besänftigt und sogar die Götter der Unterwelt dazu erweichen kann, ihm seine verstorbene Gemahlin Euridice wiederzugeben.
Im Gegensatz zu den früheren Formen der Theatermusik ist in Opern das gesamte Drama in Musik gesetzt – auch die Dialoge der handelnden Personen. Hierfür erfanden die Komponisten eine neue Art der Textdeklamation, ein „Mittelding zwischen Sprechen und Singen“. Als harmonische Stütze dient eine akkordische Instrumentalbegleitung. Bei Caccini sind dies lediglich ein paar schmucklose stützende Akkorde. Darüber bewegen sich die Singstimmen in kurzen, melodisch abgerundeten Phrasen, deren Melodie und Rhythmus ganz der gesprochenen Sprache abgelauscht sind. Die Notation ist nicht viel mehr als eine stenographische Gedächtnishilfe, die die Interpreten mit Leben füllen müssen. Denn die musikalischen Mittel sind äußerst dezent – sowohl im Botenbericht der Hirtin Daphne, die erzählt, wie die frischvermählte Euridice einem Schlangenbiss zum Opfer fiel, als auch in Orpheus´ Klage- und Bittgesang Funeste piagge vor den Geistern der Unterwelt.
Girolamo Frescobaldi wurde von seinen Zeitgenossen vor allem als virtuoser Instrumentalist geschätzt und erst in zweiter Linie als Komponist. Seit 1608 war er Organist des Petersdoms in Rom. Zwanzig Jahre später erschien sein Primo Libro delle Canzoni im Druck. Frescobaldi widmete es dem jugendlichen Großherzog der Toskana, Ferdinando II. de‘ Medici. Dieser hatte den Musiker in Rom gehört und wollte ihn unbedingt an seinen Hof nach Florenz holen. Frescobaldi nahm das Angebot an, ohne aber seine Stelle in Rom aufzugeben. Er wurde der am höchsten vergütete Hofmusiker der Medici.
„Er glaubt, er sei der beste Mann der Welt, und wer sein Freund sein will, muss ihn mit diesem Wind aufblasen. Er ist dann so erfüllt von dieser Verzückung, dass er immer nur dasselbe hören will. Er bläst sich damit auf und hüpft davon wie ein Ballon.“ Mit dem „aufgeblasenen Ballon“ ist Claudio Monteverdi gemeint, und wer da am liebsten eine spitze Nadel genommen hätte – das ist der Komponist Sigismondo d’India, der sich damit den blanken Neid von der Seele geschrieben hat. Wahrscheinlich sind sich die beiden in Mantua begegnet, wo Monteverdi Hofkapellmeister war. D’India konnte am Mantuaner Hof nicht Fuß fassen, machte aber in Turin, später in Modena und Rom Karriere. In seinen fünf gedruckten Bänden solistischer Vokalmusik, die den schlichten Namen Musiche („Musikstücke“) tragen, bietet er gleichsam ein Musterbuch der Formen und Ausdrucksmöglichkeiten des zeitgenössischen Sologesangs. Aus dem letzten dieser Bände (1623 erschienen) stammen die feierliche Abschiedsszene der Jagdgöttin Diana und der Gesang der Tugend Io che del ciel i sempiterni campi.
Luigi Rossi war einer der wichtigsten Vermittler der italienischen Musikkultur ins Ausland. Er wirkte in Florenz und Rom (wo er von den Neffen des Barberini-Papstes Urban VIII. gefördert wurde) und hatte mit seinen Opern, Oratorien und Kantaten so großen Erfolg, dass er 1646/47 an den französischen Hof eingeladen wurde. Dort schrieb er auf Bestellung von Kardinal Mazarin die Oper Orfeo. Abschriften von Rossis Instrumentalwerken findet man in ganz Europa. Die Passacaille ist in einem Manuskript überliefert, das heute in der Pariser Bibliothèque Nationale aufbewahrt wird.
„Kulturtransfer“ von Italien ins Ausland haben auch die Komponisten Giovanni Felice Sances und Antonio Cesti betrieben. Sances genoss am Jesuitenkolleg in Rom eine umfassende Ausbildung und ging 1636 nach Wien, wo er in der kaiserlichen Hofkapelle als Sänger mitwirkte. Er kletterte immer weiter nach oben auf der Karriereleiter und wurde schließlich Hofkapellmeister der Habsburger. Neben einer Anzahl geistlicher Werke haben sich nur drei gedruckte Sammlungen weltlicher Musik aus Sances´ Feder erhalten, darunter ein Band mit Solokantaten, der die Miniaturoper Proserpina gelosa (Die eifersüchtige Proserpina) enthält.
Proserpina verdächtigt ihren Gatten Pluto, den antiken Gott der Unterwelt, der Untreue. Leise regt sich die Eifersucht in ihr und steigert sich dann zu einem Anfall blinder Wut, in dem sie nur so um sich schleudert mit Flüchen und Verwünschungen. Wie sehr Proserpina außer sich ist, unterstreicht Sances auch mit dem offenen Schluss der Kantate: die Musik kehrt nicht mehr in ihre Ausgangstonart zurück.
Auch Antonio Cesti stand eine Zeit lang als Kapellmeister im Dienst der Habsburger. Seine Leidenschaft fürs Singen und speziell für die Oper hat ihn immer wieder in Konflikt mit der Kirche gebracht: Cesti war Franziskanermönch, und sein Orden sah es alles andere als gern, wenn er in der Halbwelt der Opernsänger verkehrte. Schließlich wurde er zum Laienpriester ernannt und als Sänger an die päpstliche Kapelle „strafversetzt“. Seine Kantate Chi non prova star lontano handelt von den Sehnsüchten, Entbehrungen und Qualen der unerfüllten Liebe – Gefühle, die Cesti sicherlich gut kannte, denn auch er hat sein Leben lang mit einer Existenz geliebäugelt, die ihm verwehrt blieb.
Die Kantate All’or ch’il cor d’Alcide des sizilianischen Komponisten Cataldo Amodei zeigt den antiken „Supermann“ Herkules einmal von seiner schwachen Seite. Nicht seine zahl- und ruhmreichen Heldentaten sind Thema, sondern seine zarte Seele. Wider Willen hat er sich in eine schöne Amazone verliebt. Zunächst versucht er, sein Herz mit einer kriegerischen Arie umzubiegen, schließlich gesteht er unter Seufzern: Diese Schlacht hat Amor gewonnen.
Doris Blaich
Die Künstler
Maria Cristina Kiehr
Maria Cristina Kiehr wurde in Argentinien geboren und erhielt dort ihre erste musikalische Ausbildung. 1983 kam sie nach Europa und studierte bei René Jacobs an der Schola Cantorum Basiliensis, um sich besonders im Barockgesang weiterzubilden. Gleichzeitig studierte sie Gesangstechnik bei Eva Krasnai. Sie gilt heute als eine der Größen des Barockgesangs und hat auf der ganzen Welt bei Konzerten, Opern und Aufnahmen mitgewirkt – u.a. mit dem Concerto Vocale unter René Jacobs, Concerto Köln, dem Ensemble 415 unter Chiara Banchini und Hesperion XXI unter Jordi Savall. Zu ihren musikalischen Partnern gehören außerdem Frans Brüggen, Gustav Leonhardt und Nikolaus Harnoncourt.
Concerto soave
Das besondere Interesse Maria Cristina Kiehrs gilt der Musik des 17. Jahrhunderts. Diese Vorliebe teilt sie mit dem Cembalisten und Organisten Jean-Marc Aymes. Gemeinsam haben die beiden das Ensemble Concerto Soave – übersetzt etwa „wohlklingendes Konzert“ – gegründet. Das „Markenzeichen“ des Ensembles ist seine große und farbenprächtige Palette an Bass- und Akkordinstrumenten, die den Sologesang begleiten. Die frühbarocke Musik Italiens bildet den Schwerpunkt der Arbeit von Concerto Soave. Hier hat das Ensemble schon so manche musikalischen Schätze gehoben und sie in CD-Einspielungen und in Konzerten bei allen wichtigen Alte-Musik-Festivals einem größeren Publikum bekannt gemacht.
Kleines mythologisches
Glossar
Daphne, schöne Nymphe, in die sich Apollo verliebt. Er stellt ihr nach, sie ruft Diana an, die sie in den ersten Lorbeerbaum verwandelt, bevor Apollo sein Ziel erreicht hat. Aus den Blättern des Baumes flicht der Gott den ersten Lorbeerkranz. In unserem Programm ist sie noch vor ihrer Metamorphose als Botin und als Sängerin zu erleben.
Orpheus, Sänger aus Thrakien (Bulgarien) mit einer sagenhaft schönen Stimme, deren Zauber weder die wilden Tiere noch die Götter der Unterwelt widerstehen können. Als er seine Braut Eurydike am Tag ihrer Hochzeit durch einen Schlangenbiss verliert, steigt er in den Orkus hinab und besänftigt die Schatten der Unterwelt mit seinem Gesang. Diese Geschichte wurde zum beliebtesten Stoff der frühen Oper (Caccini 1600, Monteverdi 1607, Rossi 1647).
Diana, Schwester des Apoll und Göttin der Jagd, die sich der Keuschheit verschrieben hat.
Proserpina, Tochter der Ceres, von Pluto geraubt und als seine Gemahlin in die Unterwelt entführt.
Virtù, Göttin der Tugend, die hier gezeigt wird, wie sie Fama, die Göttin des Ruhms, in einen goldenen Mantel hüllt.
Alcide, anderer Name des Herkules. Halbgott und Sohn des Jupiter, der sich nach vollbrachten ruhmreichen Taten dem häuslichen Leben hingibt. In Amodeis Version ist es Iole, die Herkules zähmt und ihm zum Spinnen an die Spindel verdammt. Traditionell kommt diese Rolle eher der Omphale zu.