Quartett Nr.3 c-Moll für Klavier, Violine, Bratsche und Violoncello, op. 60
Werkverzeichnisnummer: 365
1. Allegro non troppo
2. Scherzo. Allegro
3. Andante
4. Finale. Allegro comodo
Fassung 2:
In Ziegelhausen bei Heidelberg vollendete Johannes Brahms im Juli 1875 sein drittes Klavierquartett in c-Moll. Das Stück wurde noch im folgenden November von seinem Verleger Simrock unter der Opuszahl 60 veröffentlicht. Es war ein schwer errungenes, über Jahrzehnte gereiftes Opus – das kammermusikalische Gegenstück zur Ersten Sinfonie in c-Moll, die Brahms im Sommer darauf vollenden sollte.
Bereits 1855, mit 22 Jahren, hatte er ein Klavierquartett in cis-Moll begonnen, von dem mindestens drei Sätze (Allegro, Scherzo und Andante) vollendet wurden. Aus diesem Frühwerk übernahm er Teile in das c-Moll-Quartett, mindestens den überarbeiteten ersten und den zweiten Satz. Dennoch bedurfte es dreier Anläufe in den Jahren 1869, 1874 und 1875, bis aus dem älteren cis-Moll-Stück das c-Moll-Quartett gewonnen war.
Warum der Kampf um die Vollendung zum zähen Ringen wurde, erklärt sich aus den autobiographischen Bekenntnissen, die Brahms gerade diesem Werk anvertraut hat. Während er Autobiographisches in seiner Musik sonst generell leugnete, hat er hier den Schleier ausnahmsweise gelüftet. Als er die Endfassung des Quartetts 1875 an seinen Verleger Simrock schickte, meinte er scherzhaft, man solle doch in der Notenausgabe ein Bild des
Komponisten „im Werther-Kostüm“ abdrucken. Indem er sich selbst mit Goethes verzweifeltem Selbstmörder identifizierte, scheint Brahms auf seine 20 Jahre zurückliegenden Gefühle im Zwiespalt zwischen Clara und Robert Schumann angespielt zu haben. Das Düsseldorfer cis-Moll-Quartett war zwei Jahre nach seiner ersten Begegnung mit den Schumanns und auf dem Höhepunkt seiner Liebesbeziehung zu Clara entstanden.
Bezeichnend, dass Brahms ein so unmittelbar autobiographisches Werk so lange liegen ließ. Brieflich hat er noch in den 1870er-Jahren immer wieder angedeutet, wie sehr dieses Werk einen Zustand tiefster Verzweiflung widerspiegele, eine „Werther-Stimmung“, wie er es nannte. Dies lässt vielleicht sogar den Schluss zu, dass er sich seinerzeit 1855 mit Selbstmordgedanken getragen haben könnte, ähnlich Goethes Helden und wie dieser hin- und hergerissen zwischen seiner Liebe zu Clara und der Freundespflicht gegenüber Robert. Die Verzweiflungsausbrüche des Kopfsatzes und die existentielle Unruhe des Scherzos müssen für Brahms zeitlebens Zeugnisse jener Zeit geblieben sein. Erst nach 20 Jahren gelang es ihm, die Geister der Vergangenheit zu bannen und dem Ungestüm der ersten beiden Sätzen zwei reife, abgeklärte Sätze folgen zu lassen. Durch das herrlich milde Andante und das klug aufgebaute Finale weht schon der Geist des „mittleren Brahms“.
Zweifellos hat er bei dieser Gelegenheit auch die ersten beiden Sätze überarbeitet, so dass in ihnen nicht jede Note vom jungen Brahms stammen muss. Dennoch sind Brüche in keinem der Sätze zu bemerken, ebenso wenig in der zyklischen Linie des gesamten Quartetts. Der Verlauf vom tragischen ersten Satz bis zum befreienden und doch überschatteten Schluss ist von zwingender musikalischer Logik.
Das Quartett beginnt mit einem der erschütterndsten Mollsätze, die Brahms geschrieben hat. Auf einen isolierten, wie paralysiert wirkenden Forte-Akkord des Klaviers antworten die Streicher mit Seufzermotiven. Dieser zaghafte Dialog wird zu einer Einleitung im Tempo ausgesponnen. Eine harmonisch mehrdeutige Überleitung – Brahms‘ Freund Joseph Joachim konnte sich mit den Pizzicato-Tönen der Violine an dieser Stelle nicht anfreunden –, bereitet das eigentliche Hauptthema im Fortissimo vor. Das Seufzermotiv des Beginns tritt nun orchestral gesteigert auf, als Ausbruch ungehemmter Verzweiflung über einpeitschenden Achteln. Wie sonst kaum einmal bei Brahms wird dieses Hauptthema zum Gegenstand einer schrankenlos emotionalen Ausarbeitung, die aus der tragischen Gestimmtheit des Komponisten keinen Hehl macht. Tatsächlich scheint die Musik äußerster Verzweiflung nahe. Nur das herrliche Seitenthema in Es-Dur sorgt für eine vorübergehende Idylle. Es handelt sich um eines der schönsten Klavierthemen, die Brahms geschrieben hat, ganz aus der tiefen Lage des Instruments erfunden. Durch die anschließende Triolenfigur scheint es gar beschwingte Züge anzunehmen. Doch schon bald verkehrt sich dieses Triolenmotiv in heftigste Ausbrüche und wird in den „Werther-Sog“ des Satzes hineingezogen. Geheimnisvolle Glockenklänge im Klavier eröffnen die Durchführung, so als ob zum Wiedereintritt des Hauptthemas die Toten-glocken läuteten. Die für Brahms typische Charakterverwandlung der Themen in der Durchführung weist hier überraschend dem Hauptthema einen heroischen Duktus in Dur zu, während das zuvor so sehr in sich ruhende Seitenthema wie verstört wirkt, unruhig suchend und ohne harmonische Mitte, ein hektischer Kanon der Streicher. Aus dieser vagierenden Episode heraus tritt die Reprise ein, zwar auf dem Höhepunkt des Affekts, doch nach wenigen Takten in sich zusammenbrechend. Kraftlose Pianissimo-Läufe leiten sogleich zum Seitenthema über, dessen Triolen-Umspielung ebenfalls überschattet wirkt. Erst in der Coda kommt es zu einer letzten Steigerung des Affekts: Aus der Tiefe windet sich das Hauptthema qualvoll nach oben, um sich ein letzten Mal aufzubäumen – ein Schluss, wie man ihn in dieser Unmittelbarkeit eher bei Tschaikowsky als bei Brahms vermuten würde.
Das Scherzo beginnt, als ob es nach dem tragischen Schluss des ersten Satzes noch einer Steigerung bedürfte: Aus einem gezackten Fortemotiv heraus stürzen sich Klavier und Streicher in eine wilde Jagd über hämmernden Triolen. Der rastlos dahineilende Satz greift jenen Zug zum geisterhaften Scherzo auf, wie man ihn beim jungen Brahms häufig findet. Analogien zu seinem Scherzo Opus 4, zur F.A.E.-Sonate und den Klaviersonaten sind so offenkundig, dass man den Satz wohl mit Recht in die frühe Periode datiert. Clara Schumann, die vom ersten Satz eher unangenehm berührt war, liebte dieses wilde Scherzo besonders – sicher auch wegen des dankbaren Klavierparts.
Das Andante bringt die Lösung der aufgestauten Konflikte in einem Satz von wehmütiger Schönheit. Er wirkt, als sei er in herbstliches Gold getaucht – einer der innigsten langsamen Sätze der Romantik. Das Cello beginnt mit einem der schönsten Themen, die Brahms erfunden hat. Sanft senkt sich der Gesang in die Tiefe, setzt immer wieder von Neuem in der Höhe an, zart zwischen Dur und Moll changierend und gefolgt von wunderschönen Vorhalten, die das Kennzeichen dieses Satzes bleiben. Nach dem weiten melodischen Bogen des Cellosolos wird das Thema vom Streichtrio in gebrochene Klänge und zarteste Vorhaltswendungen aufgelöst. Auch im folgenden hat Brahms auf jede Kontrastwirkung verzichtet, um die selig-schwebende Aura nicht zu zerstören. Als zweites Thema schrieb er eine Art „Berceuse“ aus Vorhalten und Triolen, die in ihrer Süße fast an Chopin erinnern. In der sich stetig steigernden Intensität des lyrischen Gesangs macht dieser Satz dem Andante des Klavierquartetts von Schumann Konkurrenz.
Die Widersprüche der ersten drei Sätze im Finale aufzulösen, war kein leichtes Unterfangen. Vielleicht zögerte Brahms deshalb so lange, bis er die Endfassung des Werkes freigab. Das Finale schreitet langsam vom c-Moll der ersten Sätze zum befreienden C-Dur voran, ausgehend von einem unruhigen Thema, das zwar an Mendelssohns zweites Klaviertrio erinnert, aber letztlich doch eine ganz eigene Ausdruckswelt von Brahmsscher Misan-thropie beschreibt. Bestimmend für den Satzverlauf werden die kraftvollen Triolen der Überleitung, ein typisches Brahmsmotiv. Die Lösung nach C-Dur gelingt über ein Choralthema, das von den Streichern zuerst schlicht vorgestellt, später zur Apotheose gesteigert wird. Ganz am Ende freilich, wo man die finale Apotheose erwarten würde, lässt Brahms die Entwicklung in chromatisch absteigende Läufe münden – eine resignative Geste von unnachahmlicher Gebrochenheit.