Litanei „Consolatrix afflictorum“
Werkverzeichnisnummer: 3628
2005 RheinVokal
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Die Werke des heutigen Abends führen uns in drei kirchliche Musikzentren des Barock: in die Leipziger Thomaskirche, in die Dresdner Hofkirche und in die römische Basilika San Lorenzo in Damaso. Zwei der Werke sind doppelchörig angelegt, was mit den baulichen Gegebenheiten in jenen Kirchen zusammenhängt.
Jeden Sonntag ließ Johann Sebastian Bach im Hauptgottesdienst der Leipziger Thomaskirche mindestens eine Motette „per choros“, also doppelchörig singen. Nicht eben zahlreich war das Häuflein an Sängern, das sich zu diesem Zweck zu beiden Seiten der geräumigen Westempore aufstellte: in der Regel nicht mehr als 16, manchmal auch nur acht Stimmen aus den Reihen der Thomaner und der Leipziger Studenten. Dabei fiel der Gesang in der Regel keineswegs so koloraturen- und kunstreich aus wie in Bachs eigenen Motetten. Ein Werk wie Singet dem Herrn ragt in seinen Anforderungen und seiner satztechnischen Kunst turmhoch über die gewöhnlichen Sonntagsmotetten der Thomaner hinaus, die ihre Chorbücher aus dem 17. Jahrhundert zur Hand nahmen, um den wöchentlichen Motettenbedarf zu decken.
Der Thomaskantor griff nur ausnahmsweise zur Feder, um selbst eine Motette zu schreiben, da dies nicht zu seinen Amtspflichten gehörte. Nur wenn ein verdienter Leipziger Bürger zu Grabe getragen wurde, war es für Bach Ehrensache (und eine Quelle zusätzlicher Einkünfte), sich mit einer eigenen Motette hervorzutun. Zumindest für eine seiner Motetten kennen wir den Anlass: Der Geist hilft unserer Schwachheit auf wurde im Oktober 1729 zur Beerdingung des Thomasschulrektors Ernesti aufgeführt. Ihre drei doppelchörigen Schwesterwerke sind zwischen 1726 und 1729 für ähnliche Fälle entstanden, auch wenn man dies bei der Motette Singet dem Herrn wegen ihrer weltzugewandten Musik nicht recht hat glauben wollen. Einige Bachforscher vermuteten, es handle sich um eine Neujahrsmotette.
Wie dem auch sei: Singet dem Herrn ist das Glanzstück unter den Bachmotetten und wird als solches seit 1726 von den Thomanern kontinuierlich aufgeführt. Der prominenteste Zuhörer in dieser langen Aufführungsgeschichte war Mozart, dem man bei seinem Besuch in Leipzig 1789 eben diese Motette vorsang. Er soll sich danach auf den Fußboden gesetzt und die Chorstimmen um sich verteilt haben, um den Kontrapunkt zu studieren. Auch eine Partitur nahm er mit nach Wien.
Die Stimmen, aus denen die Thomaner für Mozart sangen, waren zweifellos Bachs eigenes Aufführungsmaterial, das sich bis heute erhalten hat. Es besteht aus ganzen acht Vokalstimmen. Bach hat Singet dem Herrn also tatsächlich A Cappella aufgeführt.
Die Motette ist in drei große Teile gegliedert. Die beiden Ecksätze beruhen auf Versen aus dem 149. und 150. Psalm und sind in sich wieder mehrteilig. Zu Beginn erklingt eine Art gesungenes Präludium, Bachs Orgelpräludien nicht unähnlich. Zum stetig wiederholten „Singet“ des zweiten Chores verschlingen sich im ersten die Sechzehntel über dem Orgelpunkt des Basses. Später tauschen die beiden Chöre die Rollen, so, als ob sie sich im Gotteslob gegenseitig anfeuern wollten. In dem dialogischen Abschnitt „Die Gemeine der Heiligen sollen ihn loben“ versuchen sie dagegen, einander zu überbieten im koloraturenfreudigen Gesang. Den Schlussvers des ersten Teils, „Die Kinder Zion sei’n fröhlich über ihrem Könige“, hat Bach in einem tänzerisch beschwingten Fugenthema eingefangen, das auf das Cum Sancto Spiritu der h-Moll-Messe vorausweist. Sukzessive überlagern die Einsätze dieses Themas das „Singet“ aus dem Präludium, bis sich das Stimmengewebe zur realen Siebenstimmigkeit verdichtet.
Zwischen die Psalmverse der Ecksätze hat Bach einen sogenannten „tropierten Choral“ gestellt, d.h. eine von freien Texteinschüben unterbrochene Choralstrophe. Es ist die 3. Strophe des Liedes Nun lob mein Seel den Herrn von Johann Gramann, die zum besinnlichen Ruhepunkt und zur theologischen Mitte der Motette wird. Der vierstimmige Choralsatz liegt im Chorus II und wird zeilenweise von einer Aria, einem polyphon aufgelockerten Chorlied des Chorus I, unterbrochen. Die Texte ergänzen einander inhaltlich; so wird etwa die erste Choralzeile „Wie sich ein Vat’r erbarmet“ von dem Kommentar „Gott, nimm dich ferner unser an“ beantwortet. Im stetigen doppelchörigem Dialog entsteht eine Art Hohes Lied des Gottvertrauens. Es gipfelt in der Sentenz: „Wohl dem, der sich nur steif und fest auf dich und deine Huld verlässt.“
Im Schlussteil kehren mit den Psalmversen auch die raumgreifenden Melismen wieder, zunächst in dem beschwingten doppelchörigen Dialog „Lobet den Herrn in seinen Taten, lobet ihn in seiner großen Herrlichkeit“. Am Ende vereinen sich die beiden Chöre zur wahrhaft atemberaubenden Schlussfuge. Den Vers „Alles was Odem hat, lobe den Herrn“ hat Bach wörtlich genommen – so, als habe er unter seinen Thomanern diejenigen belohnen wollen, die genug „Odem“ für eine solche Fuge hatten.
Jan Dismas Zelenka, der Bachfreund aus Böhmen, der in Dresden wirkte, stand auf der anderen Seite der konfessionellen Lager. Ist Bachs Motette Singet dem Herrn klingendes Zeugnis für die lutherische Frömmigkeit im spätbarocken Leipzig – einer Stadt, deren Kirchen selbst werktags mit Gläubigen überfüllt waren -, so führt uns die Lauretanische Litanei von Zelenka mitten hinein in den katholischen Ritus des Dresdner Hofes. Während seine Untertanen mit wahrer Inbrunst am Erbe des Reformators festhielten, hatte sich der Kurfürst von der Reformation abgewandt. Die Aussicht auf die polnische Königskrone verleitete August den Starken 1697 zur Zusage der Konversion, die er spät genug in die Tat umsetzte. Für seinen Sohn Friedrich August II. freilich gab es vom katholischen Glauben kein Zurück mehr, als er 1719 die Habsburgerin Maria Josepha heiratete.
Mit der Tochter Kaiser Josephs I. hielten die Jesuiten und die „Pietas austriaca“ an der Elbe Einzug. Die glühende katholische Frömmigkeit des österreichischen Erzhauses bestimmte fortan den Tonfall der Hofgottesdienste. Den Untertanen war dies ein Dorn im Auge, so dass Maria Josepha, ihr Gemahl und die rasch wachsende Kinderschar ihren katholischen Glauben nur hinter verschlossenen Türen ausüben durften. Den klingenden Hintergrund für diese Zeremonien schuf der Prager Jesuitenzögling Zelenka.
Als langjähriger Assistent des Hofkapellmeisters Heinichen hatte er sich vom Kontrabassisten zum Leiter der katholischen Hofkirchenmusik hochgedient. Seine Messen, Litaneien und Psalmen erklangen bis zu seinem Tod 1745 in der alten katholischen Hofkirche, denn die neue Hofkirche am Elbufer, die heutige Dresdner Kathedrale, wurde erst 1751 geweiht. Bis dahin diente das umgebaute alte Opernhaus als katholische Hofkirche. Dort erklang 1744 Zelenkas letzte Komposition: die Lauretanische Litanei Consolatrix afflictorum. Ihr Titel „Trösterin der Beladenen“ ist dem Text der Litanei entlehnt und erfleht den Beistand der Gottesmutter für die damals schwer erkrankte Kurfürstin Maria Josepha.
Die Lauretanische Litanei in der von Papst Sixtus V. 1587 sanktionierten Fassung war ursprünglich dem Heiligen Haus in Loreto zugeordnet (daher der Name). Im Barock wurde sie zum Inbegriff marianischer Frömmigkeit überall in Europa. Zelenka vertonte sie als eine Folge inbrünstiger Arien und Ensembles, eingerahmt von großen Chören für das Kyrie und Agnus Dei. Seinen Ruf als Meister der Doppelfuge spiegelt diese Musik ebenso wider wie seine geradezu ekstatische Behandlung der Dissonanzen, die seiner eigenen katholischen „Pietas“ Ausdruck verleihen.
Antonio Vivaldi hat seine Kirchenmusik nicht nur für Venedig, sondern auch für das päpstliche Rom geschaffen. Im Herzen Roms, unweit des Campo de‘ Fiori, steht der größte Renaissancepalast der Ewigen Stadt, die päpstliche Cancelleria, noch heute exterritorialer Besitz des Vatikans auf dem Staatsgebiet Italiens. Der Kanzleipalast ist so groß, dass er in seiner rechten Hälfte eine komplette Basilika überspannt: San Lorenzo in Damaso. Im 18. Jahrhundert waren Palast und Kirche aus zwei Gründen in der Musikwelt berühmt: Im Palast residierte Kardinal Pietro Ottoboni, der Freund und Förderer von Corelli, Händel und Alessandro Scarlatti; in der Kirche prunkte die Apsis mit zwei herrlichen Sängeremporen und hochbarocken Orgeln, die kein Geringerer als Gian Lorenzo Bernini entworfen hatte. Vivaldis doppelchöriger Psalm Dixit Dominus, RV 594, ist das Klang gewordene Monument dieser Kirche.
1723 rief der aus Venedig stammende Kardinal Ottoboni seinen Landsmann Vivaldi zum ersten Mal nach Rom – nicht etwa als Violinvirtuosen, sondern als Opernkomponisten. In drei aufeinander folgenden Spielzeiten präsentierte Vivaldi den staunenden Römern Bühnenwerke wie seinen Giustino. Daneben fand er Eingang in höchste römische Kreise, wo Ghezzi seine berühmte Karikatur des „Prete rosso“ anfertigte. Zuhause in Venedig hatte Vivaldi schon zehn Jahre früher Kirchenmusik komponiert. Nun ermunterte ihn der römische Kardinal und Vizekanzler der Kirche zu neuer Produktivität in diesem Genre. Insgesamt 16 Werke aus Vivaldis mittlerer Schaffenszeit lassen sich der Kirchenmusik an San Lorenzo in Damaso zuordnen, wie der Vivaldi-Forscher Michael Talbot aufgrund der Papiersorten und anderer Merkmale der Handschriften herausfand. Das prachtvollste dieser Werke ist die Vertonung des 109. Psalms.
Als erstem Psalm der Vesper kam ihm in den katholischen Zentren des Barock eine überragende Stellung zu. Die prachtvollere der beiden Vivaldischen Fassungen ist die römische. Sie könnte für das Heilige Jahr 1725 entstanden sein, das Kardinal Ottoboni mit einer Reihe großer Aufführungen in seinem Palast feiern ließ.
Alles an diesem Psalm ist auf San Lorenzo in Damaso zugeschnitten: Während Vivaldi zuhause in Venedig ausschließlich junge Frauen für seine Chöre und Soli zur Verfügung hatte, konnte er hier auf hoch virtuose Tenöre und Bassisten zurückgreifen. Die Sopran- und Altstimmen waren den römischen Kastraten anvertraut, deren virtuose Gesangskunst der „Prete rosso“ in den Arien auf manch harte Probe stellte. Das Orchester weist mit solistischen Trompeten, Oboen und Celli weit über die simple Streicherbesetzung venezianischer Kirchenorchester hinaus. Vivaldi hat es auf die beiden Emporen Berninis verteilt, ebenso den Chor. Sogar die beiden Orgeln von San Lorenzo hat er einbezogen: Sie eröffnen den Psalm mit einem Basso ostinato von typisch Vivaldischem Schwung.
Was sich daran anschließt, sind zehn großartige Sätze voller Metaphern für die Herrschaftsgewalt Gottes, die sich über alle Könige und Völker erstreckt. Im Kanzleipalast des Stellvertreters Christi auf Erden hörte man diese Bilder 1725 umso lieber, als sich damals im realpolitischen Geschehen kaum noch ein Fürst dem römischen Primat beugte. Bei Vivaldi aber erstrahlen Gott und das päpstliche Rom in den leuchtenden Farben Venedigs.
Gleich nach der schwungvollen Eröffnung mit dem vielfach wiederholten „Dixit“ setzt das „Donec ponam“ einen eindeutigen Akzent: Zu kraftvollen punktierten Rhythmen der Streicher treten die Männerstimmen des Chores die Feinde Gottes förmlich unter seine Füße. Doppelchörigkeit und venezianisches Unisono verbinden sich zu einem der eindrucksvollsten chorischen Adagiosätze Vivaldis. Auch die beiden Soprane im Duett „Virgam virtutis“ besingen den kriegerischen Triumph Gottes über seine Feinde. Der Alt dagegen schwelgt in den typischen Vivaldisequenzen eines melancholischen Andante. Seinen Höhepunkt erreicht der Psalm mit den beiden Gerichtszenen des „Juravit Dominus“ und „Judicabit in nationibus“. Breite Akkordflächen bestimmen den ersten Satz, drastische Bilder des Weltgerichts den zweiten. Die beiden Solotrompeten rufen die Posaunen des Jüngsten Gerichts ins Gedächtnis, die Orgeln erwecken die Toten zum Leben, die zum Klang der Oboen und Streicher langsam auferstehen. Im Unisono des Chores erscheint der Weltenrichter, gefolgt vom Werk der Vernichtung – einem Taumel aus rasenden Läufen des Chores und Streichertremolo.
Das Sopransolo„De torrente“ malt in träumerischen Tönen ein Bild des murmelnden Bachs, bevor das „Gloria Patris“ den Beginn des Psalms wieder aufgreift. Mit dem Schlusschor „Sicut erat in principio“ schuf Vivaldi seine anspruchsvollste Chorfuge, einen siebenstimmigen Satz, der um eine absteigende Tonleiter als Cantus firmus kreist. In typisch römischer Manier bewegen sich die Stimmen wie „in einer Spirale aus Polyphonie“ (Michael Talbot) auf den krönenden Schluss des Psalms zu.
Karl Böhmer