"Feritevi, viperette mordaci" | Kammermusikführer - Villa Musica Rheinland-Pfalz

Heinrich Schütz

"Feritevi, viperette mordaci"

„Feritevi, viperette mordaci“

Besetzung:

Werkverzeichnisnummer: 3612

Satzbezeichnungen

Erläuterungen

2005 RheinVokal

Madrigale

Madrigale waren für die Komponisten der Renaissance und des Frühbarock das, was Streichquartette für die Klassiker waren: der Prüfstein des wahren Komponisten, Inbegriff kompositorischer Freiheit und Experimentierfreude in einem von höchsten Ansprüchen der Satztechnik umgrenzten Terrain. Alle Affekte der menschlichen Seele waren in diesem Genre auszudrücken: Liebe und Schmerz, Freude und Qual, Leben und Tod. Dem jungen Sachsen Heinrich Schütz ist dies in seinem ersten und einzigen Madrigalbuch ebenso eindrucksvoll gelungen wie dem Altmeister Claudio Monteverdi am Ende eines bewegten Musikerlebens. Dem einen, Zögling des venezianischen Altmeisters Giovanni Gabrieli, diente der bewegliche und bewegte Kontrapunkt von fünf Stimmen über einem Basso continuo als Medium für den neuartigen Ausdruck der Affekte. Mal eisig erstarrt, mal blühend bewegt, mal flüchtig flink und koloraturenreich kommt das Liniengeflecht in den Madrigalen des jungen Schütz daher. Bei Monteverdi dagegen stehen wir auf einer imaginären Bühne: himmelnden Blicks und tränenden Auges treten seine singenden Nymphen auf wie die Statuen eines Gianlorenzo Bernini.
Henrico Sagittario

Venedig, 1611: Ein junger Deutscher, seit zwei Jahren Schüler beim Organisten der Markuskirche, Giovanni Gabrieli, legt seinen ersten Notendruck vor. Praktischerweise hat er seinen Namen ins Italienische übersetzt: aus dem Köstritzer Heinrich Schütz ist der Wahl-Venezianer Henrico Sagittario geworden. Seinem Primo Libro de‘ Madrigali fügt er stolz den Hinweis auf seine Herkunft hinzu: Allemanno.

Den Venezianern ist es durchaus nichts Neues, dass ein junger Komponist aus dem Norden in ihrer Stadt weilt, um bei einem Gabrieli zu studieren. Hans Leo Haßler hat es 20 Jahre zuvor ebenso gehalten, zu Schützens Mitschülern bei Giovanni Gabrieli zählen der Westfale Johann Grabbe, der Thüringer Christoph Clemsee und der Däne Morgens Petersøen.

Dass alle diese Nordländer Protestanten sind, stört im liberalen Venedig keinen, auch nicht, dass sie zumeist das Italienische erst erlernen und sich mit dem neuen Stil der einheimischen Literatur erst vertraut machen müssen. Früher oder später legen sie alle ihr Gesellenstück vor: ein Primo Libro de‘ Madrigali, ein erstes Madrigalbuch, was nicht nur den venezianischen Druckereien willkommene Zusatzeinnahmen beschert, sondern vor allem jenen fürstlichen Mäzenen als Ruhmestitel angerechnet wird, die den Aufenthalt ihrer Schützlinge in der Lagunenstadt finanzieren.

Im Falle des jungen Schütz ist Landgraf Moritz von Hessen-Kassel der Geehrte. Er war es, der die Neigung des Knaben zur Musik rechtzeitig erkannt und gefördert hatte. In Schützens Nachruf heißt es dazu rührend: „Gleich wie sich aber die Lust zu einem Dinge leichtlich nicht (ver)bergen lässet, also hat sich auch stracks in der Jugend eine sonderliche Inclination zu der edlen Music bey dem Herrn Schützen gefunden, also daß er in kurtzer Zeit gewiß und ziemblich wohl mit einer besonderen Anmuth zu singen gelernet hat, welches denn nicht eine geringe Ursach seiner zeitlichen Beförderung gewesen.“ Denn, so erfahren wir weiter, als der Landesfürst von Hessen-Kassel einst im Schützschen Gasthaus zu Weißenfels übernachtete und den Knaben singen hörte, bat er die Eltern kurzerhand, den damals 14-Jährigen mit ihm ziehen und bei Hofe ausbilden zu lassen. Dies geschah, und so wurde aus dem sächsischen Gastwirtssohn und Sängerknaben der Hofmann und weltläufige Musicus poeticus Schütz, dem „die Wichtigkeit und Schwere des mir fürgenommenen Studii der Composition“ sehr wohl bewusst war.
Um darin voranzukommen und in den blühenden Zeiten der deutschen Renaissance – vor den Verwüstungen des Dreißigjährigen Krieges – auf der Höhe der Zeit zu sein, gab es für junge Musiker nur einen Weg: nach Italien. Dorthin wurden sie von ihren Fürsten entsandt – zum Wohle und zum Ruhm des eigenen Hofes. Für Schütz brachte man in Erfahrung, dass ein „hochberümbter, aber doch ziemlich alter Musicus und Componist noch am leben were“. Gemeint war der erst 52-jährige Giovanni Gabrieli, die neben Monteverdi höchste Autorität in Fragen der Madrigalkomposition. Nur wenige Jahre zuvor hatte sich Don Carlo Gesualdo, der komponierende Fürst von Venosa, mit Gabrieli auf ein stundenlanges madrigaleskes Streitgespräch eingelassen. Nun hing der junge Deutsche an Gabrielis Lippen, um von ihm die Geheimnisse ausdrucksvoller Wortvertonung im italienischen Geschmack zu erfahren. Noch Jahre später rühmte sich Schütz mit Stolz der „Italienischen Manier, zu welcher ich von meinem lieben und in aller Welt hochberühmten Praeceptore Herrn Johan Gabrieln, so lange in Italia ich mich bey ihm auffgehalten, mit fleiß angeführet worden.“

Zwischen Schüler und Lehrer scheint sich ein besonderes Vertrauensverhältnis entwickelt zu haben. Auf

seinem Totenbett schenkte Gabrieli dem jungen Deutschen einen Ring „aus sonderbahrer Affection zu seinem guten andencken“. Es war wohl auch der Stolz auf die Madrigale seines Schülers Schütz, den er mit diesem Geschenk ausdrückte, denn die „fürnembsten Meister“ Venedigs hatten dieses Werk mit Lob überschüttet.

Was daran noch heute fasziniert, ist die Dichte der Dissonanzen und die reife Meisterschaft im Wortausdruck. In dem Madrigal D’orrida selce alpina führt uns Schütz mit wenigen Noten mitten hinein in die zerklüfteten Alpen (die er ja selbst passiert hatte). Gleich darauf stürzt er den Hörer in die Hitze Afrikas, wo die Tiger wüten. Dass beide Landschaftsbilder nur Metaphern sind für die eisige Kälte und bestialische Grausamkeit der Frau, die den Mann umsonst schmachten lässt, hat den eifrigen Kompositionsstudenten Schütz vermutlich weniger interessiert. Die Bilder selbst, die typischen Metaphern des Madrigals, waren es, die ihn faszinierten. Die „Selve Beate“, die seligen Wälder, öffnet er vor unseren Augen in einem wunderbar stimmungsvollen Sextfall. „O Primavera“, der Ausruf des ersten Madrigals, der unserem Konzert den Titel gab, wird in duftigen Kontrapunkt umgesetzt. Die „fiori“ und „amori“, die Blumen und Lieben, die frischen Kräuter und der ganze Reiz des Frühlings liegen in diesen Klängen – bis sich der Liebende an die verlorenen Tage seines Glücks erinnert. Seine „rimembranza misera e dolente“ hat sich Schütz als Gelegenheit für „schmerzliche“ Dissonanzen nicht entgehen lassen. Mit geradezu bestürzender Eindringlichkeit hat er im zweiten Teil dieses Madrigals eisig-starre Akkorde aufgetürmt:
O dolcezze amarissime d’amore.

Anders als der Musikdramatiker Monteverdi, bei dem Hirten aus Fleisch und Blut sich kopfüber in die Liebe stürzen, klingen die Madrigale des Protestanten Schütz stets nach dem „Vanitatum Vanitas“ der nördlichen Tradition. Die Vergänglichkeit mischt sich -ganz nach lutherischer Lehre – ins amouröse Sittenbild. Alle Stellen, in denen es um Tod und Schmerz, vergangenes Glück und vergängliche Liebe geht, sind dem Sachsen besonders gut gelungen – das Sterben hat er musikalisch in den verschiedensten Schattierungen geschildert, so wie den christlichen Tod in seiner späteren geistlichen Musik.