Streichquartett c-Moll, op. 51,1 | Kammermusikführer - Villa Musica Rheinland-Pfalz

Johannes Brahms

Streichquartett c-Moll, op. 51,1

Quartett c-Moll für zwei Violinen, Viola und Violoncello, op. 51,1

Besetzung:

Werkverzeichnisnummer: 363

Satzbezeichnungen

1. Allegro

2. Romanze. Poco adagio

3. Allegro molto moderato e comodo

4. Allegro

Erläuterungen

Brahms näherte sich dem Streichquartett noch weit befangener als der junge Beethoven. Dem hohen Anspruch der Gattung fühlte er sich erst nach 20jährigen Vorarbeiten gewachsen. Robert Schumann hatte zwar schon 1853 der Musikwelt Streichquartette des jungen Hamburgers angekündigt, die „verschleierte Sinfonien“ seien, doch der Komponist vernichtete diese wie alle anderen Jugendquartette. Insgesamt hat er nach eigenen Angaben 20 frühe Streichquartette zerstört, bevor er 1873 sein erstes Opus mit zwei Quartetten publizierte.

Zum Problem wurde das Streichquartett für Brahms nicht nur wegen der klassischen Vorbilder Haydn, Mozart und Beethoven, sondern auch in satztechnischer Hinsicht: „Es ist nicht schwer, zu komponieren, aber es ist fabelhaft schwer, die überflüssigen Noten unter den Tisch fallen zu lassen“, klagte er seinem Freund Theodor Billroth während der Arbeit an den Quartetten Opus 51. Anlässlich der Widmung dieser Werke an den berühmten Wiener Chirurgen sprach er denn auch humorvoll von einer „Zangengeburt“, für die ein Arzt dringend erforderlich gewesen sei.

Für die Brahms-Rezeption spielen diese Quartette eine zentrale Rolle. Arnold Schönberg widmete ihnen die wichtigsten Passagen seines Aufsatzes Brahms, der Fortschrittliche, in denen er die Kontinuität zwischen seiner eigenen Musik und der von Brahms zu belegen versuchte. Den Begriff der „entwickelnden Variation“ – gemeint sind die sich ständig fortschreibenden, immer neue Varianten bildenden motivischen Keimzellen bei Brahms – hat Schönberg anhand dieser Stücke erläutert. So führte er etwa den Kopfsatz des c-Moll-Quartetts auf ein einziges kurzes Motiv zurück, aus dem alle Themen des Satzes durch Techniken wie Vergrößerung, Umkehrung etc. ableitbar seien.

So komplex solche Analysen auf den unbefangenen Konzertbesucher wirken mögen, so notwendig sind sie doch gerade zum Verständnis der Streichquartette von Brahms. Denn deren enge motivische Verzahnung und kompakte Satztechnik erschließen sich erst dem analytischen Hören. So meinte schon Billroth: „Sie enthalten sehr viel schönes in knapper Form; doch sind sie nicht nur technisch enorm schwer, sondern auch sonst nicht leichten Gehaltes.“ Der Biograph Heinrich Reimann berichtete, man habe „an Brahms‘ Quartetten häufig getadelt, dass er über das Maß dessen, was vier einzelne Instrumente an Kraft und Klangfülle leisten können, hinausgehe, dass er unverhältnismäßige Mittel aufwende, und doch nicht die beabsichtigte Wirkung erziele … Dafür bietet er reichen Lohn demjenigen, der ihm auf diesem beschwerlichen Wege gefolgt ist, sei er ausübender Künstler oder zuhörender Laie.“

Der Kopfsatz des c-Moll-Quartetts ist das krasseste Beispiele einer solchen alle Grenzen überschreitenden Quartettmusik. Seine Maßlosigkeit in klanglicher wie affektiver Hinsicht macht ihn zu einem der erschütterndsten Bekenntnisse des Melancholikers Brahms, die wir besitzen. In seinem tragischen Tonfall und dem ständigen Changieren zwischen verzweifeltem Drängen und ermattetem Zurücksinken nimmt er zwei andere große c-Moll-Sätze des Komponisten vorweg: die Kopfsätze seiner 1. Symphonie und seines 3. Klavierquartetts. Alle drei Werke wurden zwischen 1873 und 1876 vollendet, alle drei waren das Ergebnis eines mühevollen Ringens um die endgültige Werkgestalt. In allen drei Stücken scheinen autobiographische Erlebnisse den Grund für die äußerste Erregtheit der Musik in der „Schicksalstonart“ c-Moll zu bilden.

Der dichteste Satz der drei, gleichsam eine einzige Explosion motivischer Energie, ist der Kopfsatz des Streichquartetts. Schon der maßlos erregte Anlauf zu Beginn und das Zurückfallen in eine brütend-melancholische Stimmung bezeichnen die Pole des Satzes. Der Drei-Halbe-Takt, den Brahms hier als bloßen Rahmen für rhythmische Mehrdeutigkeiten benutzte, verleiht den Themen einen wuchtigen, ja geradezu neobarocken Duktus. Am heikelsten für die Interpreten ist aber die Energie, die in jeder kleinen Begleitfigur steckt, das förmliche Zerbersten einer Musik, die die Grenzen des auf vier Streichinstrumenten Machbaren kaum noch respektiert.

In den beiden Mittelsätzen hat Brahms Spielern wie Hörern diesen „beschwerlichen Weg“ auf bezaubernde Weise versüßt, ohne in der Dichte der motivischen Faktur nachzulassen. Als Adagio schrieb er eine Romanze, deren betörende Quint- und Sextklänge den Zauber eines Nachtstücks verströmen, dabei aber konsequent aus der motivischen Keimzelle des ersten Taktes abgeleitet sind. Zweimal wird der ruhige Gang dieses Claire de lune von einem seufzenden Motiv unterbrochen, das sich zu unterdrückter Tragik aufschwingt, bevor es wieder in die Ruhe des Anfangs zurücksinkt.
Das Allegretto hat eher Intermezzo- denn Scherzo-Charakter. Sein lamentöser Marsch in f-Moll gibt der Bratsche neben der ersten Violine die wichtigste Partie, sozusagen den Widerhaken gegen das synkopische Thema. Als Trio fungiert ein klanglich delikater Ländler. Der filigrane Klang dieser Episode wie der gesamten Mittelsätze bildet einen wirkungsvollen Kontrast zum massiv-orchestralen Klang des Kopfsatzes und des Finales.

Letzteres wird demonstrativ von einem Zitat aus dem ersten Satz eröffnet und spielt auch in der folgenden, turbulenten Entwicklung immer wieder auf diesen an.

2002
Text englisch

Johannes Brahms, the great German romantic composer, born in Hamburg, but living in Vienna, was even more scrupulous and doubtful concerning his string quartets than Beethoven. Until his 30th birthday, he had already composed 20 string quartets, which he destroyed because he thought them to be not sufficient, although his publishers urged him to have them printed. As an excuse Brahms referred to Mozart: „By the way“ he wrote to his principal publisher Simrock, „Mozart tried all his best to write six beautiful quartets. Therefore we are not sparing with effort to produce at least one or two quartets which are acceptable.“ Not before he was 40, Brahms dared to publish those „one or two acceptable quartets“: the two works of his Opus 51, printed in 1873.

Before publication Brahms wrote to his friend Theodor Billroth, that these string quartets had needed an „assistant at their birth“. He would dedicate them to Billroth, since he knew that the latter was an experienced surgeon!

It is characteristic of the deeply romantic personality of Brahms that both quartets are in the minor mode. The first one even uses C minor, the same key as Beethoven’s Fifth and Brahms‘ First Symphonies, said to be „the key of Fate“. The quartet starts with „a dark and stormy tragedy“, as Sir Donald Torvey called the first movement. In broad lines, with an almost orchestral sound, the strings draw the picture of a deeply disturbed soul which – from the very beginning – seems to be torn apart between despair and a pondering melancholy.

In the second movement, Brahms draw one of his most beautiful sketches of pure sound. This Romance is in fact a „claire de lune“, a picture of soothing moonlight on a peaceful seascape. The three lower strings set the tone, which the first violin picks up in a solo of wonderfully noble lines, turning into pure sighs in the middle part. Even more beautiful is the variation of the main theme, when it comes back. „At the end, the viola sounds like a pair of deep-sea horns and the violoncello like all the harps of the sirens“ (Torvey).

Instead of a fast Scherzo or a Minuet Brahms used an Allegretto molto moderato e comodo as a third movement. It is a typically Brahmsian piece of suppressed passion, in which sighs and whispers yield to sudden, but fragmentary outbursts of wrath. The rhythm is floating, though seems to be held back in the same time. The sound is of the utmost delicacy, with the violins and cello being used with soft touch, while the viola plays a syncopated counterpoint which becomes more and more important throughout the movement. In the middle part one can hear that the quartet was written in Vienna: it is nothing else but a Viennese Waltz, though in a soft and singing manner.

In the Finale the delicate sounds of the middle movements are wiped out with a grandiose, pathetic gesture. Playing in unison, the four strings embark on a wild, uncompromising rush through uncontrolled desperation, which is hardly softened anywhere in this stern, concise movement. Donald Torvey justly remarked that this movement „is not one to convert the sceptical or to flatter, but an impressive end to a work full of tragic passion.“

2004

JOHANNES BRAHMS
Streichquartett c-Moll, op. 51,1

Kaum ein Komponist näherte sich dem Streichquartett so befangen wie Johannes Brahms. Dem hohen Anspruch der Gattung fühlte er sich erst nach 20jährigen Vorarbeiten gewachsen. Robert Schumann hatte zwar schon 1853 in der Leipziger Neuen Zeitschrift für Musik Streichquartette des jungen Hamburgers angekündigt, die „verschleierte Sinfonien“ seien, doch der Komponist vernichtete diese wie alle anderen Jugendquartette. Nach eigenen Angaben hat Brahms 20 frühe Streichquartette zerstört, bevor er 1873 sein erstes Opus mit zwei Quartetten publizierte. „Es ist nicht schwer, zu komponieren, aber es ist fabelhaft schwer, die überflüssigen Noten unter den Tisch fallen zu lassen“, klagte er während der Arbeit am Opus 51 seinem Medizinerfreund Theodor Billroth. Dem berühmten Wiener Chirurgen hat er dieses schwer zur Welt gebrachte Geisteskind denn auch zugeeignet und sprach scherzhaft von einer „Zangengeburt“, für die ein Arzt dringend erforderlich gewesen sei.

Für die Brahms-Rezeption spielen diese Quartette eine zentrale Rolle. Arnold Schönberg widmete ihnen die wichtigsten Passagen seiner Rede Brahms, der Fortschrittliche, in denen er die Kontinuität zwischen seiner eigenen Musik und der von Brahms zu belegen versuchte. Den Begriff der „entwickelnden Variation“ – gemeint sind die sich ständig fortschreibenden, immer neue Varianten bildenden motivischen Keimzellen bei Brahms – hat Schönberg anhand dieser Stücke erläutert. So führte er etwa den Kopfsatz des c-Moll-Quartetts auf ein einziges kurzes Motiv zurück, aus dem alle Themen des Satzes durch Techniken wie Vergrößerung, Umkehrung etc. ableitbar seien.

So komplex solche Analysen auf den unbefangenen Konzertbesucher wirken mögen, so notwendig sind sie doch gerade zum Verständnis der Streichquartette von Brahms. Denn deren enge motivische Verzahnung und kompakte Satztechnik erschließen sich erst dem analytischen Hören. So meinte schon Billroth: „Sie enthalten sehr viel schönes in knapper Form; doch sind sie nicht nur technisch enorm schwer, sondern auch sonst nicht leichten Gehaltes.“ Der Biograph Heinrich Reimann berichtete, man habe „an Brahms‘ Quartetten häufig getadelt, dass er über das Maß dessen, was vier einzelne Instrumente an Kraft und Klangfülle leisten können, hinausgehe, dass er unverhältnismäßige Mittel aufwende, und doch nicht die beabsichtigte Wirkung erziele … Dafür bietet er reichen Lohn demjenigen, der ihm auf diesem beschwerlichen Wege gefolgt ist, sei er ausübender Künstler oder zuhörender Laie.“

Der Kopfsatz des c-Moll-Quartetts ist das krasseste Beispiele eines solchen die Grenzen sprengenden Quartettstils. Der erregte Anlauf zum Hauptthema und sein Zurückfallen in eine brütend-melancholische Stimmung bezeichnen die Pole des Satzes. Der Drei-Halbe-Takt, den Brahms hier als bloßen Rahmen für rhythmische Mehrdeutigkeiten benutzte, verleiht den Themen einen wuchtigen, neobarocken Duktus. Am heikelsten für die Interpreten ist aber die Energie, die in jeder kleinen Begleitfigur steckt, das förmliche Zerbersten der Musik, das die vier Streichinstrumente an ihre Grenzen führt. Dahinter verbirgt sich eines der erschütterndsten Bekenntnisse des Melancholikers Brahms, die wir besitzen. In seinem tragischen Tonfall und dem ständigen Changieren zwischen Ungestüm und ermattetem Zurücksinken nimmt der Satz zwei andere große c-Moll-Sätze des Komponisten vorweg: die Kopfsätze seiner 1. Symphonie und seines 3. Klavierquartetts. Alle drei Werke wurden zwischen 1873 und 1876 vollendet, alle drei waren das Ergebnis eines mühevollen Ringens um die endgültige Werkgestalt. In allen drei Stücken scheinen autobiographische Erlebnisse den Grund für die äußerste Erregtheit der Musik in der „Schicksalstonart“ c-Moll zu bilden.

In den beiden Mittelsätzen hat Brahms Spielern wie Hörern den schweren Weg zum Streichquartett auf bezaubernde Weise versüßt, ohne in der Dichte der motivischen Faktur nachzulassen. Als Adagio schrieb er eine Romanze, deren betörende Quint- und Sextklänge den Zauber eines Nachtstücks verströmen, dabei aber konsequent aus der motivischen Keimzelle des ersten Taktes abgeleitet sind. Zweimal wird der ruhige Gang dieses Claire de lune von einem seufzenden Motiv unterbrochen, das sich zu unterschwelliger Tragik aufschwingt. Das Allegretto hat eher Intermezzo- denn Scherzo-Charakter. Ein lamentöser Marsch in f-Moll gibt der Bratsche neben der ersten Violine die wichtigste Partie, sozusagen den Widerhaken zum synkopischen Thema. Als Trio fungiert ein klanglich delikater Ländler.

Die filigranen Mittelsätze bilden eine lyrische Insel zwischen dem massiven Kopfsatz und dem nicht minder orchestralen Finale. Letzteres wird demonstrativ von einem Zitat aus dem ersten Satz eröffnet und spielt auch in der folgenden, turbulenten Entwicklung immer wieder auf diesen an.