„Trois jours du vendage“
Werkverzeichnisnummer: 3596
2005 RheinVokal
Nachdem der zehnjährige Franz Schubert im Wiener Stadtkonvikt Aufnahme gefunden hatte, litt er unter den bedrückenden Lebensumständen in dieser Anstalt, die seine Mitschüler nur „das Gefängnis“ nannten. Schubert war ein guter Schüler, ausgezeichnet vor allem in der Musik. Er komponierte, dirigierte und leitete das Schulorchester wie die täglichen Quartettproben von der ersten Geige aus. Bald erhielt er geregelten Unterricht bei dem Hof-organisten Wenzel Ruzicka und dem Hofkapellmeister Antonio Salieri.
Mit 16 Jahren, im Herbst 1813, verließ Schubert das Konvikt, um die Lehrerausbildung an der Hauptschule St. Anna zu beginnen. Auch diese Jahre als Hilfslehrer an der Seite seines Vaters waren keine verlorene Zeit für seine musikalische Entwicklung. Bereits 1813 hatte er mit dem Schulorchester des Konvikts seine 1. Sinfonie uraufgeführt, 1814/15 schrieb er seine 2. Sinfonie für das Orchester und widmete sie dem Direktor, Pater Innozenz Lang.
Als Schüler und späterer Hilfslehrer hat Schubert zwischen 1810 und 1816 elf Streichquartette komponiert. Sie waren einerseits für den Unterricht bei Antonio Salieri, andererseits fürs häusliche Musizieren im Familienkreise bestimmt. „Für seinen Vater und die älteren Brüder war es ein vorzüglicher Genuß, mit ihm Quartetten zu spielen … Bei diesen spielte Franz immer Viola, sein Bruder Ignaz die zweite, Ferdinand die erste Violine, und der Papa Violoncell.“ Sein Mitschüler Albert Stadler beschrieb 1812, wie leicht dem damals Fünfzehnjährigen das Komponieren von der Hand ging: „Ganz ruhig und wenig beirrt durch das im Konvikte unvermeidlich Geplauder und Gepolter seiner Kameraden um ihn her, saß er am Schreibtischchen vor dem Notenblatte … niedergebeugt (er war kurzsichtig), biß in die Feder, trommelte mitunter prüfend mit den Fingern und schrieb leicht und flüssig ohne viele Korrekturen fort.“ Drei Jahre später, im April 1815, hat der Achtzehnjährige das Autograph des g-Moll-Quartetts, D 173, zu Papier gebracht, wie üblich „flüssig ohne viele Korrekturen“.
Uraufgeführt wurde das Stück erst knapp 50 Jahre später: 1863 in Wien vom Hellmesberger Quartett. Das Werk war nämlich, wie die Wiener Zeitung damals berichtete, aus dem Nachlass Ferdinand Schuberts „von einem Americaner im Manuscript“ erworben worden. Erst als die Partitur wieder ihren Weg nach Wien zurück fand, kam es zur posthumen Uraufführung und Veröffentlichung.
Das g-Moll-Quartett ist ein typisches Werk aus den Jahren zwischen der 2. und 3. Sinfonie: Vorahnungen des reifen Schubert mischen sich mit Reminiszenzen an die Klassiker. Das Hauptthema des ersten Satzes greift die pathetische Rhetorik der g-Moll-Sinfonien Mozarts und Haydns auf: ein aufstrebender g-Moll-Dreiklang, plötzliches Piano, verminderte Intervalle. Im Seitenthema dagegen kündigt sich der reife Schubert an: ein „süßer“ Gesang der Violinen über pulsierender Bratschenstimme und Cello-Pizzicato. Auch die Art, wie dieses Thema später im Kanon verarbeitet wird, lässt schon die großen Quartette Schuberts erahnen. Das lyrische Thema des Andantino wird im Mittelteil von unruhigen Tremoli und Triolenklangflächen im Charakter völlig verändert. Im g-Moll-Menuett hat sich Schubert dem Einfluss der 40. Sinfonie von Mozart nicht entziehen können, während er im Trio seinem Bruder Ferdinand ein Geigensolo auf den Leib schrieb. Das Finale, eine Art gespenstischer g-Moll-Tanz mit skurrilen kurzen Vorschlägen, weist den Weg zu den ausladenden Rondoformen des späten Schubert.
Von 1815/16, also aus den gleichen Jahren wie D 173, stammen zwei der Mignon-Lieder von Schubert, die Aribert Reimann für Sopran und Streichquartett arrangiert hat. Die Gesänge des kindgleichen Wesens aus Goethes Wilhelm Meister hat Schubert mehrfach bearbeitet: als Lieder und als A-Cappella-Sätze. In Reimanns Zusammenstellung dient das Vokalquintett Nur wer die Sehnsucht kennt, D 656, übertragen auf Streichquartett, als Vor- und Zwischenspiel zu vier Liedern, deren Klavierpart er für die Streicher bearbeitet hat. Zweimal erklingt Nur wer die Sehnsucht kennt (D 481, 310), dazwischen zunächst Heiß mich nicht reden (D 726), am Ende So laßt mich scheinen (D 727).
Aribert Reimann, Sohn eines Kirchenmusikers, studierte 1955 bis 1959 in Berlin bei Boris Blacher und Ernst Pepping sowie Klavier bei Otto Rausch. Er etablierte sich als freischaffender Künstler, zunächst vornehmlich als Liedbegleiter von Dietrich Fischer-Dieskau und anderen Sängern. Als Komponist begann Reimann in der Nachfolge Weberns zu schreiben; 1967 sagte er sich jedoch von dessen serieller Technik los. Seine Begegnung mit der indischen Musik drückte fortan der rhythmischen Gestaltung seiner Werke ihren Stempel auf. Besonders seine Vokalmusik und hier vor allem seine Opern erlangten internationale Bedeutung. Hervorzuheben sind Reimanns Lieder nach Texten von Paul Celan und die Shakespeare-Oper Lear.
Ernest Chausson war neben Debussy der begabteste französische Komponist seiner Generation. Durch einen Privatlehrer erhielt er eine musikalische, künstlerische und literarische Bildung. Er verfasste ein Journal intime sowie einen Roman, den er allerdings bald wieder selbst vernichten sollte. Zudem war er ein geschickter Zeichner. Bald jedoch setzte sich bei all diesen künstlerischen Aktivitäten seine Neigung zur Musik durch. Dennoch studierte er auf Drängen der Eltern Jura und wurde 1877 Advokat am Pariser Appellationsgericht. Im gleichen Jahr begann er zu komponieren und wurde kurze Zeit später Schüler von Jules Massenet.
In Paris verkehrten später in seinem Salon die bedeutendsten Literaten, Maler und Musik seiner Zeit und seines Landes, darunter César Franck und Claude Debussy. Güte und Großzügigkeit gegenüber den Menschen zeichneten ihn ebenso aus wie Selbstzweifel gegenüber seinem kompositorischen Werk. Er starb im Alter von nur 44 Jahren bei einem Fahrradunfall.
Viele seiner 43 Lieder bzw. Liederzyklen fanden früh Anerkennung; sie gehören zu den besten lyrischen Gesängen, die damals entstanden. Aus der siebenteiligen Liedsammlung op. 2 erklingen Les papillons („Die Schmetterlinge“, 1880) und Le colibri („Der Kolibri“, 1882). Mit der Wahl von Motiven aus der Natur setzt Chausson eine spezifisch französische Tradition fort.
Chaussons Liedstil zeigt Einflüsse von César Franck auf der einen und Richard Wagner auf der anderen Seite. Er ist allerdings in seiner bisweilen oszillierend schwermütigen Farbgebung eigenständig und unverwechselbar.
Chaussons Chanson perpétuelle („Immerwährender Gesang“) ist das erste französische Kammermusikwerk mit Singstimme. Es kombiniert den Sopran mit Klavier und Streichquartett. Im Herbst 1898 komponiert, wurde es Anfang 1899 in Paris uraufgeführt. Die tragische Szene einer vom Geliebten verlassenen jungen Frau beruht auf einem Nocturne des Dichters Charles Cros aus dessen Sammlung Le coffret de Santal. Der musikalische Stil gehört noch ganz dem 19. Jahrhundert an. Die Chanson wird gleichsam umweht vom Duft des Fin de siècle. Der Stil gemahnt an Franck oder Saint-Saëns, ja geradezu an Puccini, was den sentimental gesteigerten Belcanto der Singstimme betrifft, während Streichquartett und Klavier einen quasi orchestralen, beinahe schon filmmusikhaften Klangteppich beisteuern.
Auch Reynaldo Hahn, geboren in Caracas, Venezuela (die französische Staatsbürgerschaft erhielt er erst 1907), studierte von 1885 an am Pariser Conservatoire u.a. bei Massenet, mit dem ihn eine herzliche Freundschaft verband. Hahns erste Lieder ab 1888, insbesondere ein Zyklus nach Gedichten von Paul Verlaine, machten ihn früh bekannt und trugen ihm die Bewunderung vieler Schriftsteller – darunter Stéphane Mallarmé – ein, die seinen ausgeprägten Sinn für die metrische und intonatorische Umsetzung von Sprache in Musik erkannten. Allerdings haben seine frühen, scheinbar mühelos und ohne Vorbildung erreichten Erfolge auch dazu geführt, dass er später zuweilen voreilig als Dilettant abqualifiziert wurde.
Um die Jahrhundertwende begann er sich als Komponist zahlreicher Opern, Operetten, Ballett- und Bühnenmusiken zu etablieren. Zugleich arbeitete Hahn von 1899 bis 1934 als Musikkritiker in Paris. Nicht zuletzt galt er als ein geschätzter Mozart-Dirigent (mit Don Giovanni gastierte er 1906 bei den Salzburger Festspielen) und Salon-Sänger.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ernannte man den 71-Jährigen zum Direktor der Pariser Oper. Gleichwohl blieb Hahn geistig und emotional bis zuletzt im Lebensgefühl der Belle Epoque verwurzelt. Mit seinem engen Freund Marcel Proust verband ihn die Abneigung gegenüber der heraufziehenden Moderne. Von seinen gleichaltrigen Kollegen ließ er nur Maurice Ravel gelten.
Hahns Lieder, von denen heute eine Auswahl aus der Zeit von 1891 (Trois Jours de vendange nach Alphonse Daudet) bis 1916 (A Chloris nach Théophile de Viau) erklingt, wurden im wesentlichen in zwei, in großem zeitlichem Abstand erschienenen Sammelbänden veröffentlicht. Sie spiegeln die überaus subtile Gestaltungskunst des Komponisten überzeugend wider, wenn sie auch für spätere Generationen nicht als Vorbild nachhaltig zu wirken vermochten.
Nach Debussy und Ravel wurde die französische Musik des beginnenden und mittleren 20. Jahrhunderts neben Darius Milhaud und Arthur Honegger insbesondere durch Francis Poulenc geprägt. Er war zunächst Schüler des spanischen Pianisten Ricardo Vines, der ihn mit den Komponisten Eric Satie und Georges Auric bekannt machte. Auch nach seiner Militärzeit 1918 genoss Poulenc keine professionelle musikalische Ausbildung. Stattdessen reiste er mit Milhaud durch Europa, traf in Österreich Berg, Webern und Schönberg und ging nach Italien. Mit der überwältigenden Aufführung des Balletts Les Biches durch die russische Ballett-Truppe Sergej Diaghilews im Jahr 1924 gelang Poulenc der Durchbruch als Komponist.
Als Mitglied der Gruppe Les Six, die sich programmatisch vom Impressionismus abgewandt hatte, fand er seinen Stil in einem eigenständigen Neoklassizismus unkonventioneller Prägung, der den Geist der französischen Musiktradition atmet.
Von seinem vielseitigen Gesamtwerk haben insbesondere Kammermusik- und Vokalwerke einen festen Platz im Konzertrepertoire gefunden. Dies überrascht nicht, denn die vom Gesang her empfundene Melodie ist Poulencs zentrale kompositorische Kategorie.
Auch an den fünf Klavierliedern des Zyklus Banalités nach Guillaume Apollinaire und an Les chemins de l’amour nach Jean Anouilhs Bühnenstück Léocadia – beide entstanden 1940, im Jahr der französischen Kapitulation gegenüber Nazi-Deutschland – erweist sich Poulencs Nähe zum Hörer. Klare, melodisch betonte Fasslichkeit und sinnenfrohe Klanglichkeit sind in den Dienst einer überaus eindrucksvollen musikalischen Aussage gestellt.
Michael Märker
(mit Ergänzungen der Redaktion)