Sonate b-Moll, op. 35
Werkverzeichnisnummer: 3589
1. Grave – Agitato
2. Scherzo
3. Marche funèbre. Lento
4. Finale. Presto
„So fängt nur Chopin an und so schließt nur er: mit Dissonanzen durch Dissonanzen in Dissonanzen.“ Mit diesen Sätzen begann Robert Schumann seine Rezension der b-Moll-Klaviersonate von Chopin, die 1840 im Druck erschienen ist. Zum Verständnis ihrer vier „tollen“ Sätze genügt es, Schumann zu zitieren, denn eine treffendere Beschreibung der Sonate ist nicht gegeben worden:
Nach jenem „hinlänglich Chopin’schen Anfange folgt einer jener stürmischen leidenschaftlichen Sätze, wie wir deren von Chopin schon viele kennen. Aber auch schönen Gesang bringt dieser Theil des Werkes; ja es scheint, als verschwände der nationelle polnische Beigeschmack, der den meisten der früheren Chopin’schen Melodien anhing, mit der Zeit immer mehr, als neige er sich (über Deutschland hinüber) gar manchmal Italien zu… Aber, wie gesagt, nur ein leises Hinneigen nach südlicher Weise ist es; sobald der Gesang geendet, blitzt wieder der ganze Sarmate in seiner trotzigen Originalität aus den Klängen heraus.
Der zweite Satz ist nur die Fortsetzung dieser Stimmung, kühn geistreich, phantastisch, das Trio zart, träumerisch, ganz in Chopin’s Weise: Scherzo nur dem Namen nach, wie viele Beethoven’s. Es folgt, noch düsterer, ein Marcia funebre, der sogar manches Abstoßende hat; an seine Stelle ein Adagio, etwa in Des, würde ungleich schöner gewirkt haben. Denn was wir im Schlußsatze unter der Aufschrift „Finale“ erhalten, gleicht eher einem Spott, als irgend Musik. Und doch gestehe man es sich, auch aus diesem melodie- und freudlosen Satze weht uns ein eigener grausiger Geist an, der, was sich gegen ihn auflehnen möchte, mit überlegener Faust niederhält, dass wir gebannt und ohne zu murren bis zum Schlusse zuhorchen.“
Heute ist Chopins Opus 35 vor allem aus einem Grund berühmt: wegen des Trauermarschs, der zum berühmtesten Beispiel dieses Genres wurde. In unzähligen Bearbeitungen, besonders für Blaskapelle zu Beerdingungen und Prozessionen, ist die Melodie dieses Satzes so verbraucht, dass man sich ihrem Original doppelt aufmerksam zuwendet. Von dieser „Marche funebre“ aus erschließen sich die übrigen Sätze des Werkes, die freilich keinen Anspruch auf „ordentlichen Sonatenstil“ erheben. Schumann hielt es für eine „Caprice“, dass Chopin dieses Stück eine „Sonate“ nannte, ja gar „einen Uebermuth, dass er gerade vier seiner tollsten Kinder zusammenkoppelte“.
Auf plastisch-anekdotische Weise hat Robert Schumann das Ausmaß an „Zukunftsmusik“ in Chopins b-Moll-Klaviersonate deutlich gemacht: „Man nehme an, irgend ein Cantor vom Lande kommt in eine Musikstadt, da Kunsteinkäufe zu machen – man legt ihm Neustes vor – von nichts will er wissen – endlich hält ihm ein Schlaukopf eine „Sonate“ entgegen – ja, spricht er entzückt, das ist für mich und noch ein Stück aus der guten alten Zeit – und kauft und hat sie. Zu Hause angekommen, fällt er her über das Stück – aber sehr irren müßt‘ ich mich, wenn er nicht, noch ehe er die erste Seite mühsam abgehaspelt, bei allen Musikgeistern darauf schwörte, ob das ordentlicher Sonatenstyl und nicht vielmehr wahrhaft gottloser (sei). Aber Chopin hat doch erreicht, was er wollte: er befindet sich im Cantorat, und wer kann denn wissen, ob nicht in derselben Behausung, vielleicht nach Jahren erst, einmal ein romantischerer Geist geboren wird und aufwächst, die Sonate abstäubt, und spielt und für sich denkt: „der Mann hatte doch so Unrecht nicht.‘“
Zum Ende dieses Werkes – dem geisterhaft vorüberhuschenden, zweiminütigen Finale in lauten Oktaven ohne erkennbaren tonalen Zusammenhang – meinte Schumann zusammenfassend: „So schließt die Sonate, wie sie angefangen, rätselhaft, einer Sphinx gleich mit spöttischem Lächeln.“