Quartett Nr. 2 a-Moll für zwei Violinen, Viola und Violoncello, op. 51,2
Werkverzeichnisnummer: 361
1. Allegro non troppo
2. Andante moderato
3. Quasi Minuetto, moderato – Allegretto vivace – Tempo I
4. Finale. Allegro non assai
Für Johannes Brahms war das Quartettkomponieren ein belastendes Unterfangen, und er hat es nicht im ersten Anlauf gelöst. Bevor er 1873 mit den beiden Streichquartetten seines Opus 51 an die Öffentlichkeit trat, hatte er nach eigener Aussage bereits mehr als 20 Quartette komponiert und wieder vernichtet. Darunter befand sich ein Quartett in h-Moll, das er 1853 als sein Opus 1 hatte veröffentlichen wollen, kurz vor der Drucklegung jedoch zurückzog und vernichtete. Auch die Entstehung der beiden Quartette des Opus 51 war – im burschikosen Jargon des Komponisten gesprochen – eine „Zangengeburt“. Als „Geburtshelfer“ zog er deshalb seinen Freund Theodor Billroth heran, den weltberühmten Wiener Chirurgen und Kammermusikfreund, dem er das Opus widmete.
Für die Rezeption der Brahmsschen Musik spielen diese beiden Werke bis heute eine zentrale Rolle. Arnold Schönberg widmete ihnen bedeutende Passagen seines berühmten Aufsatzes Brahms, der Fortschrittliche (Brahms the Progressive), in denen er die Kontinuität zwischen seiner eigenen Musik und der von Brahms zu belegen versuchte. Den Begriff der „entwickelnden Variation“ – gemeint sind die sich ständig fortschreibenden, immer neue Varianten bildenden motivischen Keimzellen bei Brahms – hat Schönberg anhand dieser Stücke gebildet. So führte er etwa das Andante moderato des a-Moll-Quartetts auf ein einziges Zweitonmotiv zurück, aus dem alle Themen des Satzes durch Vergrößerung, Umkehrung etc. ableitbar seien.
So komplex solche Analysen auf den unbefangenen Konzertbesucher wirken mögen, so notwendig sind sie doch gerade zum Verständnis der Streichquartette von Brahms. Denn deren enge motivische Bezüge und kompakte Satztechnik erschließen sich erst beim wiederholten, intensiven Hören. So meinte schon der Widmungsträger Billroth: „Sie enthalten sehr viel schönes in knapper Form; doch sind sie nicht nur technisch enorm schwer, sondern auch sonst nicht leichten Gehaltes“. Der Brahms-Biograph Heinrich Reimann berichtete, man habe „an Brahms‘ Quartetten häufig getadelt, dass er über das Maß dessen, was vier einzelne Instrumente an Kraft und Klangfülle leisten können, hinausgehe, dass er unverhältnismäßige Mittel aufwende, und doch nicht die beabsichtigte Wirkung erziele.“ Reimann sah die Ursache für diesen Mangel an Wirkung zum einen in der unzureichenden Technik der Interpreten, zum anderen in der ungenügenden Vorbereitung des Hörers: „Brahms‘ Art ist es nicht, von dem einen oder dem andern ein geringes zu verlangen. Dafür bietet er reichen Lohn demjenigen, der ihm auf diesem beschwerlichen Wege gefolgt ist, sei er ausübender Künstler oder zuhörender Laie.“
Die klassische Sonatenform ist im Kopfsatz des a-Moll-Quartetts in seltener Klarheit ausgeprägt: Haupt- und Seitenthema, Schlussgruppe, Durchführung, Reprise und Coda sind deutlich voneinander abgesetzt und gehen doch im Sinne der „entwickelnden Variation“ durch dauernde Metamorphose der Motive auseinander hervor. Im schwelgerischen Tonfall der Themen hat sich Brahms hier ganz dezidiert auf Franz Schuberts a-Moll-Quartett bezogen, so etwa gleich im elegischen Duktus des Hauptthemas. Es ist dem Lebensmotto seines Geigerfreundes Joseph Joachim „Frei, aber einsam“ abgelauscht, ein Motto aus wenigen Tönen wie in der frühen FAE-Sonate für Geige, nur sind es hier vier Töne in anderer Reihenfolge: AFAE. Dieses Motto durchzieht im ruhigen Gesang der ersten Geige den ganzen Satz und führt in Durchführung zu komplexen Kanons zwischen den Stimmen, die auch von der Umkehrung Gebrauch machen. Neben den vier Tönen des Mottos ist es der Klanggrund aus Duolen und Triolen, der dem Hauptthema sein eigenartig zögerliches Gepräge verleiht. In der Überleitung wird dieser Themencharakter durch motivische Verdichtung verwandelt und zu einem ruppig-kraftvollen Höhepunkt geführt. Darauf antwortet das terzenselige Seitenthema über dem Pizzicato der Begleitung wie eine Wienerische Serenadenmusik. Da auch die Schlussgruppe lyrisch singend angelegt ist, bezieht der Satz seine rhythmische und kontrapunktische Energie hauptsächlich aus einer rastlosen Überleitungsfigur, die sich vom Ende des Hauptthemas abspaltet. Aus ihr speisen sich die dramatisch-zugespitzten Passagen in der Durchführung und den Überleitungen. Am Ende der Reprise wird das Hauptthema zu einem letzten, wehmütig-herbstlichen Aufblühen gesteigert, bevor es in den Strudel der Coda hineingerissen wird.
Dem „Kürzestmotiv“, mit dem die erste Geige das Andante eröffnet, ist ebensowenig wie seinem Cello-Kontrapunkt anzuhören, zu welchen melodischen Schönheiten es sich im Laufe des Satzes steigern wird. Das Tastend-Zaghafte des Beginns wird bald zugunsten immer längerer und pathetischerer Linien aufgegeben. Nach einem dramatischen Mittelteil in quasi „neobarocken“ punktierten Rhythmen und einer Steigerung bis hin zum Fortissimo wird der Hauptteil wieder aufgenommen. Die Spannungen des Mittelteils haben dabei hörbar ihre Spuren hinterlassen.
Der Übergang vom zart verklingenden Schluss des Andante zum melancholischen Menuett gehört zu den subtilsten in der Kammermusik von Brahms. Dem merkwürdig stagnierenden Duktus des altertümlichen Menuetts antwortet das Trio mit burschikos-zerfahrenden Sechzehntellinien, die an manche Stellen in den späten Beethoven-Quartetten erinnern, um dann seltsamerweise zwei slawisch klingenden lyrischen Einschüben Platz zu machen. Der zweite leitet zurück zur Reprise des Menuetts, das im übrigen wieder bei Schubert, im Menuett von dessen a-Moll-Quartett, sein Vorbild hat.
In hoher Lage eröffnet die erste Geige das Finale mit einem trotzig-tänzerischen Hemiolenthema, während das zweite Thema freundlich-volkstümliche Töne anschlägt. Keines der Themen erweist sich freilich als beständig. Durch die stete Transformation der Rhythmen gewinnt der Satz etwas Rastloses; der melodische Duktus erscheint mal hektisch-vertrackt, mal feierlich-ruhig und von Pausen durchsetzt. In der Coda erfährt der Hörer schließlich, wie eng verwandt die Töne des Finalthemas mit den ersten Noten des Kopfsatzes sind: Letztere erscheinen in vergrößerten Rhythmen als Atempause vor dem zerfahrenen Schluss des Quartetts.
Fassung 2008:
Im Gegensatz zu Haydn, der 83 Streichquartette komponierte und auch alle veröffentlichen ließ, haben die Komponisten der Romantik kaum mehr als je drei Quartette zum Druck gegeben, so auch Brahms. Bevor er 1873 mit den beiden Werken op. 51 an die Öffentlichkeit trat, hatte er bereits mehr als 20 Quartette komponiert und wieder verworfen, darunter auch eines in h-Moll, das er 1853 als sein Opus 1 hatte veröffentlichen wollen, kurz vor der Drucklegung jedoch zurückzog und vernichtete. Auch die Entstehung der Quartette Opus 51 war – im burschikosen Jargon des Komponisten gesprochen – eine „Zangengeburt“, für die als „Geburtshelfer“ sein Freund Theodor Billroth herhalten mußte. Der weltberühmte Wiener Chirurg war ein leidenschaftlicher Kammermusikfreund und Brahms‘ Berater in ästhetischen Fragen.
Die Skrupel, die Brahms angesichts des Streichquartetts gefielen, erklären sich aus dem hohen Anspruch, den die Quartette Haydns, Mozarts und Beethovens an jeden jüngeren Komponisten stellten. Brahms gelang es, aus dem Schatten dieser klassischen Vorbilder durch ein ganz eigene Technik herauszutreten, die man „entwickelnde Variation“ genannt hat. Gemeint sind die sich ständig fortschreibenden, immer neue Varianten bildenden motivischen Keimzellen seiner Musik. So läßt sich etwa das Andante moderato des a-Moll-Quartetts auf ein einziges Zweitonmotiv zurückführen, aus dem alle Themen des Satzes ableitbar sind.
So abgehoben solche Analysen auf den unbefangenen Konzertbesucher wirken mögen, so notwendig sind sie doch gerade zum Verständnis der Streichquartette von Brahms. Denn deren enge motivische Bezüge und kompakte Satztechnik erschließen sich erst dem analytischen Hören. So meinte schon Billroth über die beiden ihm gewidmeten Quartette: „Sie enthalten sehr viel schönes in knapper Form; doch sind sie nicht nur technisch enorm schwer, sondern auch sonst nicht leichten Gehaltes“. Der frühe Brahms-Biograph H. Reimann berichtet, man habe „an Brahms‘ Quartetten häufig getadelt, dass er über das Mass dessen, was vier einzelne Instrumente an Kraft und Klangfülle leisten können, hinausgehe, dass er unverhältnismässige Mittel aufwende, und doch nicht die beabsichtigte Wirkung erziele.“ Reimann sah die Ursache für diesen Mangel an Wirkung zum einen in der unzureichenden Technik des Interpreten, zum anderen in der ungenügenden Vorbereitung des Hörers: „Brahms‘ Art ist es nicht, von dem einen oder dem andern ein geringes zu verlangen. Dafür bietet er reichen Lohn demjenigen, der ihm auf diesem beschwerlichen Wege gefolgt ist, sei er ausübender Künstler oder zuhörender Laie.“
Der Kopfsatz des a-Moll-Quartetts ist – wie der des d-Moll-Quartetts von Haydn – in klarer Sonatenform gebaut, wobei auch das Hauptthema durch seine viertönige Melodie an Haydns „Quintenthema“ erinnert. Die Tonfolge der ersten Violine besteht bei Brahms jedoch aus den Tönen AFAE, womit er auf sein Lebensmotto „Frei, aber einsam“ anspielte. Das Seitenthema nähert sich in seinem schwelgerischen Ton Franz Schubert an, auf den sich auch das Quasi Minuetto des Brahms-Quartetts bezieht. Neben dem Kürzestmotiv des Andantes wird besonders das Thema des Finales auf kunstvolle Weise verarbeitet. In der Coda dieses Satzes erfährt der Hörer schließlich auch, wie eng verwandt die Töne dieses Themas mit den ersten Noten des ersten Satzes sind.
Fassung 2000:
Das zweite Streichquartett von Johannes Brahms ist das genaue Gegenteil des Lekeu-Adagios: eine durch alle Bewusstseinsschichten formaler Kontrolle gefilterte, in jedem Takt thematisch gearbeitete Musik, deren Emotionalität ohne die Tiefenschichten der formalen Prozesse, die ihr zugrundeliegen, gar nicht denkbar ist.
Für Brahms war das Quartettkomponieren ein belastendes Unterfangen, und er hat es nicht im ersten Anlauf gelöst. Bevor er 1873 mit den beiden Quartetten op. 51 an die Öffentlichkeit trat, hatte er nach eigenen Angaben bereits mehr als 20 Quartette komponiert und wieder verworfen, darunter eines in h-Moll, das er 1853 als sein Opus 1 hatte veröffentlichen wollen, kurz vor der Drucklegung jedoch zurückzog und vernichtete. Auch die Entstehung der Quartette Nr. 1 und 2 war – im maliziösen Jargon des Komponisten gesprochen – eine „Zangengeburt“. Als „Geburtshelfer“ zog er seinen Freund Theodor Billroth heran, den weltberühmten Wiener Chirurgen und Kammermusikfreund, dem er sein Opus 51 widmete. Trotz unendlich langen Reifens und letzten Feilens während einer ersten Probenphase mit dem Walter-Quartett aus München im Sommer 1873 in Tutzing war Brahms mit dem Ergebnis natürlich nicht zufrieden: „Ich dachte immer, es sollte einmal ein recht großes Quartett herauskommen, aber es kommen nur kleine und unvollkommene heraus.“
Für die Rezeption der brahmsschen Musik spielen diese beiden Werke bis heute eine zentrale Rolle. Arnold Schönberg widmete ihnen die zentralen Passagen seines berühmten Aufsatzes Brahms, der Fortschrittliche (Brahms the Progressive), in denen er die Kontinuität zwischen seiner eigenen Musik und der von Brahms zu belegen versuchte. Den Begriff der „entwickelnden Variation“ – gemeint sind die sich ständig fortschreibenden, immer neue Varianten bildenden motivischen Keimzellen bei Brahms – hat Schönberg anhand dieser Stücke gebildet. So führte er etwa das Andante moderato des a-Moll-Quartetts auf ein einziges Zweitonmotiv zurück, aus dem alle Themen des Satzes durch Vergrößerung, Umkehrung etc. ableitbar seien.
So komplex solche Analysen auf den unbefangenen Konzertbesucher wirken mögen, so notwendig sind sie doch gerade zum Verständnis der Streichquartette von Brahms. Denn deren enge motivische Bezüge und kompakte Satztechnik erschließen sich erst beim wiederholten, intensiven Hören. So meinte schon der Widmungsträger Billroth: „Sie enthalten sehr viel schönes in knapper Form; doch sind sie nicht nur technisch enorm schwer, sondern auch sonst nicht leichten Gehaltes“. Der Brahms-Biograph Heinrich Reimann berichtete, man habe „an Brahms‘ Quartetten häufig getadelt, dass er über das Mass dessen, was vier einzelne Instrumente an Kraft und Klangfülle leisten können, hinausgehe, dass er unverhältnismässige Mittel aufwende, und doch nicht die beabsichtigte Wirkung erziele.“ Reimann sah die Ursache für diesen Mangel an Wirkung zum einen in der unzureichenden Technik der Interpreten, zum anderen in der ungenügenden Vorbereitung des Hörers: „Brahms‘ Art ist es nicht, von dem einen oder dem andern ein geringes zu verlangen. Dafür bietet er reichen Lohn demjenigen, der ihm auf diesem beschwerlichen Wege gefolgt ist, sei er ausübender Künstler oder zuhörender Laie.“
Der Kopfsatz des a-Moll-Quartetts ist wie fast alle Kopfsätze in Brahms‘ Kammermusik in klarer Sonatenform mit Haupt- und Seitenthema, Schlussgruppe, Durchführung, Reprise und Coda gebaut. In seinem schwelgerischen Tonfall erinnert er an Franz Schuberts a-Moll-Quartett, auf das sich auch das Quasi Minuetto des Brahms-Quartetts historisch bezieht. Wie bei Schubert wird dem melancholischen Hauptthema ein terzenseliges Seitenthema über Pizzicato gegenübergestellt; auch die Schlussgruppe ist lyrisch breit und singend angelegt, so dass der Satz seine rhythmische und kontrapunktische Energie hauptsächlich aus der rastlosen Überleitungsfigur mit ihrem Dreiachtelauftakt bezieht. Aus ihr speisen sich die dramatisch-zugespitzten Passagen des Satzes. In der Durchführung wird das Hauptthema in Form transparent klingender Kanons verarbeitet, in der Coda zu einem letzten, wehmütig-herbstlichen Aufblühen gesteigert, bevor es in den Strudel der Coda hineingerissen wird.
Dem „Kürzestmotiv“, mit dem die erste Geige das Andante eröffnet, ist ebensowenig wie seinem Cello-Kontrapunkt anzuhören, zu welchen melodischen Schönheiten es sich im Laufe des Satzes steigern wird. Das Tastend-Zaghafte des Beginns wird bald zugunsten immer längerer und pathetischerer Linien aufgegeben. Nach einem dramatischen Mittelteil in „neobarocken“ punktierten Rhythmen und einer Steigerung bis hin zum Fortissimo-Ausbruch wird der Hauptteil wieder aufgenommen; die Spannungen des Mittelteils haben dabei hörbar ihre Spuren hinterlassen.
Der Übergang vom zart verklingenden Schluss des Andante zum melancholischen Menuett gehört zu den subtilsten in der Kammermusik von Brahms. Dem merkwürdig stagnierenden Duktus des altertümlichen Menuetts antwortet das Trio mit burschikos-zerfahrenden Sechzehntellinien, die an manche Stellen in den späten Beethoven-Quartetten erinnern, um dann seltsamerweise zwei slawisch klingenden lyrischen Einschüben Platz zu machen. Der zweite leitet zurück zur Reprise des Menuetts.
In hoher Lage eröffnet die erste Geige das Finale mit einem trotzig-tänzerischen Hemiolenthema, während das zweite Thema freundlich-volkstümliche Töne anschlägt. Keines der Themen erweist sich freilich als beständig. Durch die stete Transformation der Rhythmen gewinnt der Satz etwas Rastloses; der melodische Duktus erscheint mal hektisch-vertrackt, mal feierlich-ruhig und von Pausen durchsetzt. In der Coda erfährt der Hörer schließlich, wie eng verwandt die Töne des Finalthemas mit den ersten Noten des Kopfsatzes sind: Letztere erscheinen in vergrößerten Rhythmen als Atempause vor dem zerfahrenen Schluss des Quartetts.
Streichquartett a-Moll, op. 51,2
„Sie enthalten sehr viel schönes in knapper Form; doch sind sie nicht nur technisch enorm schwer, sondern auch sonst nicht leichten Gehaltes“, bemerkte der Wiener Chirurg Theodor Billroth über die beiden Streichquartette Opus 51 seines Freundes Johannes Brahms. Der Komponist hatte die beiden Quartette nicht zufällig dem berühmten Mediziner gewidmet: Zum einen dachte Brahms dabei an den begeisterten Quartettspieler Billroth, zum anderen brauchte er ihn, wie er scherzhaft schrieb, als „Geburtshelfer“, um die hart erkämpften Werke endlich zur Welt zu bringen – eine veritable „Zangengeburt“, womit Brahms auf die Vorgeschichte anspielte.
Mehr als 20 frühe Streichquartette hatte Brahms bereits vernichtet, als er sich endlich 1873 der Vollendung seines Opus 51 näherte. Aus dem übermächtigen Schatten der drei Großen, Haydn, Mozart und Beethoven, herauszutreten, erschien ihm in dieser Gattung ähnlich unmöglich wie in der Sinfonie. Mit dem Ergebnis war er denn auch kaum zufrieden, woran selbst das lange Feilen mit dem Walter-Quartett aus München im Sommer 1873 in Tutzing nichts änderte: „Ich dachte immer, es sollte einmal ein recht großes Quartett herauskommen, aber es kommen nur kleine und unvollkommene heraus.“
„Klein“ sind die beiden Werke allenfalls im äußeren Zuschnitt: gedrungene, kaum halbstündige Kompositionen, in deren scheinbar so bescheidene äußere Form Brahms eine solche Fülle an motivischer Arbeit, an klanglichen und technischen Herausforderungen hineingepackt hat, dass sie vor Energie zu bersten scheinen. Der Brahms-Biograph Heinrich Reimann berichtete, man habe „an Brahms‘ Quartetten häufig getadelt, dass er über das Maß dessen, was vier einzelne Instrumente an Kraft und Klangfülle leisten können, hinausgehe, dass er unverhältnismäßige Mittel aufwende, und doch nicht die beabsichtigte Wirkung erziele.“ Doch man müsse nur gut vorbereitet an die Stücke herangehen – als Spieler wie als Hörer. „Brahms‘ Art ist es nicht, von dem einen oder dem andern ein geringes zu verlangen. Dafür bietet er reichen Lohn demjenigen, der ihm auf diesem beschwerlichen Wege gefolgt ist, sei er ausübender Künstler oder zuhörender Laie.“
Das a-Moll-Quartett, op. 51,2, ist das lyrische Gegenstück zur dramatischen Nr. 1 in c-Moll. Ganz dezidiert hat sich Brahms hier auf Franz Schuberts a-Moll-Quartett bezogen, so etwa gleich im elegischen Duktus des Hauptthemas. Es ist dem Lebensmotto seines Geigerfreundes Joseph Joachim „Frei, aber einsam“ abgelauscht. Statt der dreitönigen Version
„FAE“ verwendete Brahms eine viertönige Variante: „AFAE“. Dieses Motto durchzieht im ruhigen Gesang der ersten Geige den ganzen Satz. In der Durchführung wird es in komplexen Kanons zwischen den Stimmen verarbeitet, die auch von der Umkehrung Gebrauch machen. Neben den vier klagenden Tönen des Mottos ist es der Klanggrund aus Duolen und Triolen, der dem Hauptthema sein eigenartig zögerliches Gepräge verleiht.
In der Überleitung wechselt der Themencharakter. Die Verdichtung eines vom Hauptthema abgespaltenen Motivs führt zu einem ruppig-kraftvollen Höhepunkt. Darauf antwortet das
terzenselige Seitenthema wie eine Wienerische Serenadenmusik über dem Pizzicato der Begleitung. Da auch die Schlussgruppe lyrisch singend angelegt ist, bezieht der Satz seine rhythmische und kontrapunktische Energie hauptsächlich aus jener rastlosen Überleitungsfigur. Aus ihr speisen sich die dramatisch zugespitzten Passagen der Durchführung. Am Ende der Reprise wird das Hauptthema zu einem letzten, herbstlich wehmütigen Aufblühen gesteigert, bevor es in den Strudel der Coda hineingerissen wird.
Das „Kürzestmotiv“, mit dem die erste Geige das Andante eröffnet, lässt ebenso wenig wie sein Cello-Kontrapunkt erahnen, zu welchen melodischen Schönheiten es sich im Laufe des Satzes steigern wird. Das Tastend-Zaghafte des Beginns wird bald zugunsten immer längerer und pathetischerer Linien aufgegeben. Nach einem dramatischen Mittelteil in quasi barocken punktierten Rhythmen und einer Steigerung bis hin zum Fortissimo wird der Hauptteil variiert wieder aufgenommen. Die Spannungen des Mittelteils haben dabei hörbar ihre Spuren hinterlassen.
Der Übergang vom zart verklingenden Schluss des Andante zum melancholischen Menuett gehört zu den subtilsten in der Kammermusik von Brahms. Dem merkwürdig stockenden Duktus des Menuetts, dessen Melodie wiederum an Schuberts a-Moll-Quartett gemahnt, antwortet das Trio mit zerfahrenen Sechzehntellinien, die an manche Stellen in den späten Beethoven-Quartetten erinnern. Sie machen unversehens zwei slawisch klingenden lyrischen Einschüben Platz. Der zweite leitet zurück zur Reprise des Menuetts.
In hoher Lage eröffnet die erste Geige das Finale mit einem trotzig-tänzerischen Thema in Hemiolen, während das zweite Thema freundlich-volkstümliche Töne anschlägt. Keines der beiden Themen freilich erweist sich als beständig. Durch die stete Transformation der Rhythmen gewinnt der Satz etwas Rastloses; der melodische Duktus erscheint mal hektisch-vertrackt, mal feierlich-ruhig und von Pausen durchsetzt. In der Coda erfährt der Hörer schließlich, wie eng verwandt die Töne des Finalthemas mit den ersten Noten des Kopfsatzes sind: Letztere erscheinen in vergrößerten Rhythmen als Atempause vor dem hektischen Schluss des Quartetts.
Karl Böhmer