Alessandro, Dramma per msuica (London 1726), Neufassung als Kammeroper von Alan Curtis und Georges Delnon
Werkverzeichnisnummer: 3383
2004
ZUM STÜCK
Alessandro gehörte bislang nicht zu den Lieblingen der Händel-Renaissance. Seit Sigiswald Kuijken vor 20 Jahren seine Gesamteinspielung vorlegte, ist es still geworden um Händels erste Auseinandersetzung mit dem antiken Super-Helden, dem er noch zwei weitere Werke widmen sollte (Poro und Alexander’s Feast). Die nur zaghafte Rückbesinnung auf eine von Händels Meisteropern, immerhin in der chronologischen Mitte zwischen Rodelinda und Admeto entstanden, hat wohl am meisten mit Äußerlichkeiten zu tun wie dem Fehlen einer Neuausgabe, die das Problem der Fassungen und des Stimmenmaterials befriedigend gelöst hätte. Zudem gibt es in diesem Stück sehr, sehr viel Musik – zu viel, zu pompös und zu oberflächlich für manchen Händelgeschmack.
Den Londonern gefielen diese Superlative ausgesprochen gut. Nach der Uraufführung am 5. Mai 1726 im King’s Theatre am Londoner Haymarket erlebte der Alessandro eine der erfolgreichsten Aufführungsserien in Händels langer Bühnenlaufbahn. Schuld daran waren sicher auch der Bühnenpomp, die Pracht der Musik, der große Alexander – schuld daran war aber vor allem eine kleine kokette Frau, die den Londonern den Kopf verdrehte: Faustina Bordoni.
Die Sopranistin aus Venedig mit dem gewissen Etwas in Stimme und Aktion, mit kessen Trillerketten und perlenden Laufkaskaden, die man vorher noch nie so gehört hatte, wusste auch als Schauspielerin alle Register des schwachen Geschlechts zu ziehen. Für eine Unsumme hatte man sie aus Italien geholt, um dem langsam sinkenden Stern der Königlichen Opernakademie zu London neuen Glanz zu verleihen. Schon etwas zu lange hatten die Londoner die wundervollen Stimmen des Kastraten Senesino und der Sopranistin Francesca Cuzzoni gehört und bewundert. Als Cäsar und Kleopatra, Rodelinda und Bertarido, Kaiser Otto der Große und Teophanu waren sie singend über die Bühne stolziert und hatten Händels Opern zum Triumph verholfen. Doch nun kam diese frische junge Stimme aus dem Süden und mischte den Laden auf.
Nun war es an Senesino, in des großen Alexander Fußstapfen nicht eine Primadonna zu beglücken, sondern deren zwei. Partout hatten sich die Londoner in den Kopf gesetzt, zwei erste Sängerinnen in ihrer Oper haben zu müssen. Zwei Jahre später sollte dies im unvermeidlichen Krach enden (die Damen kriegten sich auf offener Bühne während der Probe zu einer Ariosti-Oper in die Haare), doch 1726 beim Debüt der zierlichen Faustina war noch alles eitel Sonnenschein. Noch sangen die beiden Damen im Duett (das wundervolle Placa l’alma), noch bangten sie gemeinsam in seligen Rezitativ-Terzen um das Leben ihres Alexander (gleich zu Beginn). Am Ende durfte Senesino gar – ein Unikat – ein Duett mit beiden singen, um zuerst der Cuzzoni den Laufpass zu geben und dann die Faustina auf den Thron zu heben. Im Stück heißen sie Lisaura und Rossane, womit wir schon mitten im Dramma per musica und seinen Fassungen wären.
KAMMERSPIEL
Über stark gekürzte Händel-Opern rümpft man heutzutage geflissentlich die Nase. Sie scheinen an die unseligen Zeiten früherer Händel-Pflege zu erinnern, als sich jeder Dramaturg sozusagen sein eigene Version einer Händel-oper zurechtschusterte. Die stetig voranschreitende neue Gesamtausgabe seiner Werke und der generelle Hang zum „kritischen Urtext“ legen die Messlatte auch hier hoch – auf die Höhe einer „Werktreue“ , die es im praktischen Theaterbetrieb der Händelzeit nie gegeben hat. Händel selbst ist mit seinen Partituren höchst pragmatisch verfahren, besonders dann, wenn er ein Stück in neuer Besetzung wiederaufnehmen wollte. Aus Kastratenpartien wurden Hosenrollen, aus einem Sopran ein Mezzo, aus einem Mezzo ein Tenor, Arien wurden transponiert, gekürzt oder umgeschrieben – ganz nach gusto und Belieben der Sänger.
Alessandro ist ein Musterbeispiel für diesen Bearbeitungsprozess. Von den sieben Rollen des Originalstücks aus dem Jahre 1726 behielt Händel für die Wiederaufnahme 1732 nur fünf bei – es sind jene, auf die auch Alan Curtis und Georges Delnon ihre Fassung beschränken: Alessandro, seine potentiellen Geliebten Lisaura und Rossane, der indische Prinz Tassile und der treue, aber unbeugsame Mazedone Clito. Als das Werk 1743 noch einmal (nicht mehr unter Händels Leitung) auf die Londoner Bühne kam, war es noch tiefgreifender verändert und hieß nun Rossane.
Diese selbst für Händel ungewöhnlich lange Aufführungsgeschichte zeigt zweierlei: zum einen, wie sehr die Londoner ihren Alexander und seine beiden Damen Lisaura und Rossane ins Herz geschlossen hatten (und die betont galanten Melodien, die Händel für sie geschrieben hatte); zum anderen, dass man diese Oper immer weiter auf ihren Kern reduzierte, ähnlich wie es in unserer Fassung geschieht.
ALEXANDERS HOCHMUT
Im Kern des Alessandro steht der hochmütige Herrscher, wie schon der Titel der Libretto-Vorlage La superbia d’Alessandro zeigt (vertont 1690 von Agostino Steffani). Es geht um des großen Alexander Hochmut in Staats- wie Liebesdingen, wozu zwei historisch verbürgte Episoden aus der Alexander-Biographie geschickt miteinander verwoben wurden: seine Selbsterhebung zum Göttersohn und seine Liebe zu Roxane. Je weiter der historische Alexander nach Osten vordrang – von Persien, wo er Roxane zur Sklavin machte, über Skythien, wo unsere Opern-Lisaura herstammt, bis nach Indien, dem Reich des Tassile -, desto mehr war er fasziniert vom Herrscherkult der Orientalen, ihrer Vergöttlichung des Königs. Als er sich nach ihrem Vorbild zum Sohn des Zeus erhob und auch von seinen treuen Griechen den Kniefall verlangte, kam es zum Konflikt mit seinem General Kleitos, den Alexander aus Wut über die verweigerte Ehrbezeugung mit dem Speer durchbohrte – in der Oper bleibt Clito natürlich am Leben.
Die Kehrseite des zornigen ist der verliebte Alexander. Obwohl er von kleinem Wuchs war, „unvorteilhaft beschenkt mit schiefer Kopfhaltung und schwimmendem Blick“ (Jörg-Uwe Albig), dichtete man dem geborenen Feldherrn auch den geborenen Liebhaber an, der die schöne Roxane im Sturm erobert. In Händels Oper ist er eher ein selbstverliebter Gigolo, der rasch an seine Grenzen, nämlich an die harten Kanten weiblicher Klugheit stößt. Die Art, wie ihn Roxane von der Ebene amourösen Geplänkels herunterholt und tief in die Verstrickungen der Liebe hineinzieht, zeugt davon, wie sehr im Grunde sie, Rossane alias Faustina Bordoni, Händels Hauptfigur in dieser Oper ist.
SUBVERSION
„Wenn es Händel mit Helden zu tun hat, macht er sie zur Sau.“ Diesen Satz Nikolaus Harnoncourts, für das Alexanderfest formuliert, kann man auf Händels Alexanderoper ohne Umschweife anwenden. Alessandro ist die Desavouierung des größten Herrschers aller Zeiten auf politischer wie amouröser Ebene. Bei der Uraufführung am Londoner King’s Theatre 1726 versteckte Händel diese subversive Tendenz hinter dem größt-möglichen Bühnenpomp, wusste er doch, dass die Sympathie der Londoner seinem Kastraten Senesino immer dann besonders heftig entgegenschlug, wenn er ihn mit seinem angeborenen Talent fürs Heroische in die Rolle eines großen Feldherrn kleidete. Im Alessandro sparte man nicht an „Special effects“: Zu Beginn hatte sich Senesino von einem veritablen Belagerungsturm in die Mauern der Stadt Ossidraca zu stürzen. Später durfte er sich im pompösen Triumphzug, in wildem Schlachtgetümmel und einer Thronsaal-Szene mit zusammenstürzendem Baldachin bewähren.
Im intimen Saal von Schloss Engers oder im Säulenhof der Orangerie in Sanssouci konnten wir mit solchem Breitwandkino aus den Londoner Opera-Seria-Studios des 18. Jahrhunderts natürlich nicht aufwarten. Darum entschlossen sich Alan Curtis und Georges Delon, das Augenmerk ihrer Fassung noch weiter zu verengen: auf den Liebhaber Alexander und seine potentiellen Opfer, Rossane und Lisaura. Der politische Konflikt wird in den Hintergrund gedrängt, aus „Pomp and Circumstances“ wird ein Kammerspiel, in dem sich alles um das Auf und Ab im Herzen der Liebenden dreht.
Um die Sonne des Königs und seine weiblichen Planeten kreisen die beiden anderen Männer wie Monde: Tassile, der blasse, unglückliche Konkurrent seines Gönners Alexander, hat von Anfang an keine Chance bei Lisaura. Seine weichlichen Klagen sind eine Farbe, vor der die erotische Ausstrahlung des Helden umso heller leuchtet. Clito lenkt Alexander für Augenblicke von der Couch ab und zwingt ihn zum Zorn – aus Spiel wird Ernst. Doch fast alles, was zur politischen Handlung gehört – Intrigen und Ränke bis hin zum ominösen Speerwurf Alexanders -, wurde aus unserer Fassung der Oper verbannt.
STRICHE
Um zum Ergebnis einer „Kammerfassung“ zu kommen, war es mit der Reduzierung der Personenzahl natürlich nicht getan. Aus satten dreieinhalb Stunden Musik mussten knappe eineinhalb werden, aus Händels großem Orchester ein Nonett. Händels Instrumentierung konnte bis auf wenige Retouchen erhalten bleiben, und die Akustik im Dianasaal begünstigt die orchestrale Wirkung des an sich kammermusikalischen Klangs.
Die Qual der Wahl unter den Arien fiel Alan Curtis zu, der 15 Arien und Ensembles aus den mehr als 30 auswählte. Über so manchen schmerzlichen Verlust mag der Händelkenner betrübt sein, wie etwa Rossanes erste Arie Lusinghe più care, die ersten Noten, die Händel der Faustina in die geläufige Gurgel schrieb. Doch alles in dieser Fassung zielt auf Stringenz und auf das Ausleben des amourösen Konflikts im Kern des Dramas. (Karl Böhmer)