„Die sieben letzten Worte unseres Erlösers am Kreuz“, für Streichquartett Hob. XX:1
Werkverzeichnisnummer: 3379
L’Introduzione. Maestoso ed Adagio
Sonata I. Largo
„Vater, Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht was sie tun.“
Sonata II. Grave e Cantabile
„Heute noch, heute noch wirst du mit mir im Paradiese sein.“
Sonata III. Grave
„Frau, siehe, das ist dein Sohn.“
Sonata IV. Largo
„Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“
Sonata V. Adagio
„Mich dürstet.“
Sonata VI. Lento
„Es ist vollbracht“
Sonata VII. Largo
„In deine Hände, Herr, befehle ich meinen Geist.“
Terremoto. Presto con tutta la forza
2018
2004
JOSEPH HAYDN
Die 7 letzten Worte unseres Erlösers am Kreuz für Streichquartett
Als die Musikalische Real-Zeitung in Speyer im März 1788 Joseph Haydns Sieben letzte Worte unseres Erlösers am Kreuz rezensierte, musste der Kritiker vor der Schönheit der Musik die Waffen strecken: „Wenn der Herr Verfasser unmittelbar aus der Seele des sterbenden Mittlers herausgeschrieben hätte: so würde er kaum im Stand gewesen sein, die Empfindungen desselben wahrer und feierlicher darzustellen.“ Haydns Passionszyklus für Orchester bzw. Streichquartett überwältigte die Zeitgenossen und löst noch beim heutigen Publikum den Eindruck aus, die sieben in den Evangelien verbürgten Worte Jesu am Kreuz seien hier „wahr und feierlich“ wiedergegeben.
Instrumentalmusik über die sieben letzten Worte unseres Erlösers am Kreuz, bestehend aus sieben Sonaten mit einer Einleitung und einem Erdbeben am Ende lautet übersetzt der italienische Originaltitel der Wiener Erstausgabe von Artaria, die bald von Orchestern in ganz Deutschland gekauft wurde. Das Werk entstand 1786/87 im Auftrag der spanischen Stadt Cádiz, für deren aufwendige Karfreitagszeremonien es berechnet war. Zugleich mit der Edition der Orchesterfassung bereitete Haydn sein eigenes Arrangement für Streichquartett vor, das ebenfalls 1787 erschien und dessen erste Geigenstimme er aus der Originalfassung unverändert übernehmen konnte. Erst wesentlich später, ungefähr 1796, fertigte er die dritte Fassung für Soli, Chor und Orchester an, zu der ihn eine Bearbeitung des Passauer Domherrn Joseph Friebert angeregt hatte.
Wichtig am Titel der Originalausgabe ist die Formulierung „Musica instrumentale sopra“ – „Instrumentalmusik über die Sieben Worte“. In den Rezensionen kann man spüren, dass die Zeitgenossen zwar nicht das Genre als solches, wohl aber Haydns Lösung in diesem Falle als absolut neuartig empfanden: „Herr Haydn hat uns schon mehrere Charakterstücke, oder wenn man will, musikalische Malereien geliefert, aber noch keines, das diese Sammlung an Reichthum und Fülle der Harmonie, an kühnen Modulationen, an Energie und Würde der Schreibart übertroffen hätte.“ (Real-Zeitung) Haydn-Forscher nahmen früher an, das Werk sei in seiner Urfassung mit Bassrezitativen zwischen den Sätzen ausgestattet gewesen – so, als habe Haydn zur Verdeutlichung des Inhalts von vornherein auf gesungene Zitate der Sieben Worte zwischen den Sätzen zurückgreifen wollen. Diese Annahme hat sich jedoch als unrichtig erwiesen.
Der so ungewöhnliche, für Haydn überraschende Auftrag hatte seinen Grund in den religiösen Gebräuchen der Stadt Cádiz. Der andalusische Adlige Don José Saluz de Santamaria, Marquès de Valde-Inigo (1738-1804), hatte unter der Pfarrkirche des Rosenkranzes in Cádiz die Kirche Santa Cueva errichten lassen, eine unterirdische Grotte für Passionsexerzitien. „Diese Exerzitien bestanden in Szenen der Passion und den Sieben letzten Worten des Herrn, und außer den Schätzen, die der oben erwähnte priesterliche Marquis der Höhle stiftete, hatte er auch den Wunsch, die Musik des berühmtesten Komponisten jener Zeit dort erklingen zu lassen. Zu diesem Zweck wendete er sich an einen Freund: Don Francisco Micon, Marqués Méritos, der seinerseits ein Freund von Haydn war, und dieser war es, … der persönlich den Auftrag übermittelte und dem Künstler einen eigenartigen Brief schrieb, in dem er die Worte erklärte und die Art und Weise, in der die Gebets-Exerzitien ablaufen“, so Don Antonio Gessa Loaysa, ein Zeitzeuge.
Die Spiritualität eines auf Passionsexerzitien ausgerichteten Raumes ist für das Verständnis dieser Musik im Grunde unabdingbar, will man sie nicht als absolute Musik, sondern als „Musica instrumentale sopra…“ begreifen. Die spätere Aufführungspraxis in Deutschland bestätigt dies. In Koblenz etwa wurden die Sieben Worte in der Orchesterfassung fast jeden Karfreitag als Teil der Passionsandachten des Trierer Erzbischofs in der Kirche gespielt.
Mit ihrer Funktion als „Andachtsmusik“ hängt unmittelbar die Frage der Verbindung von Wort und Ton zusammen, die den sieben Sonaten zwischen Introduktion und Erdbeben zugrundeliegt. Haydn leitete die thematische Idee zu jeder Sonate aus dem jeweiligen lateinischen Erlöserwort ab. Angeblich hat ihn dazu Abbé Maximilian Stadler angeregt, der ihm riet, zu Beginn der Arbeit eine geeignete Melodie aus dem jeweiligen Jesuswort auf Lateinisch abzuleiten, um sie dann in dem ausgeführten Stück wortlos nur von Instrumenten ausführen zu lassen. Der Reiz dieses Verfahrens liegt darin, dass man auch heute noch beim Hören die lateinische Deklamation in den Anfangsmotiven der Sätze quasi mithören kann.
Haydn hatte diese Verbindung zwischen der Deklamation der Worte und seinen Melodien, also quasi den Inhalt der Sonaten, seinem Verleger „in Notten ausgedruckt“ übersandt mit dem Hinweis: „muß auch in den quartetten beygedruckt werden“. Diese beigedruckten Schriftzitate geben den Evangelientext mit Wortwiederholungen wieder, die mit den melodischen Wiederholungen in Haydns Themen übereinstimmen. Dies sowie der Charakter der Sonaten bestätigt, was der Komponist über ihre Wirkung an den Londoner Verleger Forster schrieb: „Jedweder Text ist bloss durch die Instrumental Music dergestalt ausgedruckt, das es den unerfahrensten den tiefsten Eindruck in der Seele erwecket; das ganze Werk dauert etwas über eine Stunde, es wird aber nach jeder Sonate etwas abgesezt, damit man voraus den darauffolgenden Text überlegen köne.“
Die Introduktion bedient sich des punktierten Rhythmus einer Ouvertüre. Er verbindet sich mit grellen dynamischen Kontrasten und einer von „sprechenden“ Pausen durchsetzten Melodik.
Sonata I. Pater, Pater dimitte illis, quia nesciunt, quid faciunt. – „Vater, Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“ Das „Pater, Pater“ ist in der ersten Violine deutlich zu hören, ebenso das folgende affekthafte „dimitte illis“. Der Charakter des B-Dur-Satzes ist der einer innigen Bitte um Vergebung: er „kündigt das Herz voll Liebe an, dem die Begnadigung seiner Feinde so nahe lag“, so der Speyerer Rezensent. Zugleich erkannten die Zeitgenossen in dem „düsteren Colorit dieses Gemäldes“ die sich durchkreuzenden Empfindungen „des Gottmenschen in dieser bangen Stunde: … die Empfindungen seiner Menschenliebe mit Gefühlen körperlicher Schmerzen, mit Gefühlen der Wehmuth über eine undankbare Nation, oder mit dem Gefühl der Selbstwürde und der Unschuld unter den grausamsten Misshandlungen“. Um all dies auszudrücken, habe Haydn „Licht und Schatten mit vieler Einsicht vertheilt“. Dies trifft etwa auf das Helldunkel der Dur-Moll-Wechsel zu, die hier in subtilster Weise eingesetzt sind.
Sonata II. Hodie mecum eris in Paradiso. – „Heute noch wirst du mit mir im Paradiese sein.“ Auch in diesem Fall stimmt die Textwiederholung mit der melodischen Wiederholung im Thema überein: das erste „Hodie mecum“ ist ein engschrittiges Motiv in c-Moll, das bei der Wiederholung pathetisch gesteigert wird, und dessen Nachsatz „eris in Paradiso“ auf einem schmerzlichen Vorhalt endet. Obwohl die Sonate zu Beginn auf dem gleichen pochenden Bass beruht wie die erste, ist sie im Charakter völlig verschieden: ein Arioso des Leidens, das von Klangvisionen des Paradieses unterbrochen zu werden scheint – „frohes Bewusstsein eines Sterbenden in der Stunde seines Todes“.
Sonata III. Grave. Mulier ecce filius tuus – „Frau, siehe, dies ist dein Sohn.“ Drei Akkorde leiten die Sonate ein, die schon durch ihre Tonart E-Dur als Idylle herausgehoben ist, ein Eindruck, den ihr knappes, wunderbar geschlossenes Hauptthema von vier Takten noch unterstreicht. Es wird in großartiger Weise entwickelt, wobei Haydn für das Ende jedes Teils schwebende Dissonanzen von berückender Schönheit erfunden hat.
Sonata IV. Deus meus, Deus meus, utquid dereliquisti me? – „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Das Jesuswort aus dem Matthäusevangelium, das den 22. Psalm zitiert, ist in einem f-Moll-Adagio von pathetischstem Ausdruck eingefangen. Der Anruf „Deus meus“ wird zu Beginn einfach sequenziert, gefolgt von dem absteigenden „utquid derelequisti me“, das deutlich eine Frage nachzeichnet. Sie wird im folgenden in Sequenzen voll barocker Vorhaltsdissonanzen entwickelt.
Sonata V. Sitio – „Mich dürstet“. Dem knappsten Jesuswort hat Haydn durch die berückende Klangaura des Satzes eine überirdische Wirkung verliehen. Über einer Pizzicatofigur der Mittelstimmen setzt die erste Geige in langen Noten ein. Dieser A-Dur-Gesang verkehrt sich jedoch bald in krasse Molleinbrüche von hämmernder Rhythmik.
Sonata VI. Consummatum est. – „Es ist vollbracht.“ Das Sterbewort aus dem Johannesevangelium leitet im Unisono aller vier Instrumente die schwermütigste der sieben Sonaten ein. Sie ist der Höhepunkt des Zyklus, die Katharsis in einem von Haydn genau berechneten Spannungsbogen. Alte barocke Pathoswendungen klingen in dem „Consummatum est“-Motiv an. Sie weichen der tröstlichen Gewissheit klassisch-schöner Melodik in tröstlich-gefasster harmonischer „Aureole“.
Sonata VII. In Manus tuas, Domine, commendo Spiritum meum. – „In deine Hände, Herr, befehle ich meinen Geist.“ Das Sterbewort des Lukasevangeliums wird zur inneren Wende, zum Ausdruck kindlichen Gottvertrauens, wie es für Haydns Religiösität typisch war. Die weitgespannte Es-Dur-Melodie wirkt nach der Reduktion des „Consummatum est“ wie eine Befreiung zu arienhaftem Gesang. Sie bildet wiederum deutlich die Deklamation des Jesuswortes ab, wobei „Domine“ und „commendo“ herausgehoben erscheinen.
Terremoto (Erdbeben): In den katholischen Passionsmusiken des Barock blieb der Hinweis auf das Erdbeben nach Jesu Tod fast nie aus: „Und die Erde erbebte, und die Felsen zerrissen, und die Gräber taten sich auf.“ Denn im katholischen Verständnis der Passion deutet dieses Erdbeben auf das letzte, größte der Geschichte voraus: auf das Erdbeben beim Jüngsten Gericht. Letzteres ruft die sündigen Menschen vor Gottes Strafgericht, jene Sünder, die Jesus ans Kreuz geschlagen haben. In der Erschütterung der Natur nach dem Tod des Mittlers sollen wir die Erschütterung jenes Tages vorausahnen, an dem wir alle Reschenschaft für unser Tun ablegen müssen. Haydn hat die Absicht, seine Zuhörer zu erschüttern und zugleich zu läutern, mit den krassesten denkbaren Mitteln erreicht. Das Erdbeben sprengt gleichsam die Form und wirkt umso erschütternder, als hier der Sublimierung des Leids in den sieben Sonaten naturalistische Klangeffekte und dynamische Exzesse gegenübergestellt werden. (Karl Böhmer)