Canzon „La Lusignuola“
Werkverzeichnisnummer: 3323
2004:
TARQUINIO MERULA
Zwei Kanzonen
Deutlicher älter als Vivaldis Concerti sind die übrigen Stücke dieses Programms. Sie reichen in die Glanzzeit der venezianischen Musik der Renaissance und des Frühbarock zurück, das Jahrhundert zwischen 1530 und 1630. Am Ende dieser Periode stehen der Markuskapellmeister Monteverdi und einige seiner weniger berühmten, aber nicht weniger originellen Zeitgenossen. Unter diesen nahm Tarquinio Merula eine Sonderstellung ein. Er zog in einem skandalumwitterten Leben zwischen Bergamo und Cremona hin und her, Städten, die heute in der Lombardei liegen, aber seinerzeit die Grenzen des venezianischen Festlands, der Terra ferma, bezeichneten. An Santa Maria Maggiore in Bergamo, wo noch heute die großen Sängeremporen an die aufwendige Kirchenmusik jener Epoche erinnern, erklangen seine Canzonen und Sonaten, auf zwei Violinen und Basso continuo gespielt, hoch expressive Stücke im Stil der Monteverdizeit, denen Merula die Namen berühmter Zeitgenossen voranstellte. Wir hören zwei seiner Canzonen, von denen die erste La Merula ein Selbstporträt des exzentrischen Komponisten darstellt.
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Noch zu Isaacs Lebzeiten begann der europäische Siegeszug der Chanson, des vierstimmigen französischen Liedes. Ähnlich wie heute der englische Popsong war die Chanson eine über ganz Europa verbreitete Modegattung, und was der Pop-szene heute die „Remixes“ sind, das waren damals Variationen über bekannte Chansons, sogenannte Diminutionen. Man benutzte eine besonders populäre Chanson-Melodie, um darüber virtuose Veränderungen für Instrumente zu schreiben. Auf Spanisch wurden sie „Diferencias“ genannt und von den Meistern der spanischen Renaissance in großer Zahl komponiert. Der fantasievollste von ihnen war Antonio de Cabezon, Oragnist im Dienste der Königin Isabella und des Infanten Philipp, des späteren Königs Philipp II., der ihn auf fast alle seine Riesen mitnahm. Cabezóns Diferencias gelten ob ihres fantastischen Laufwerks und ihrer ungebundenen Schreibweise als die unkonvetionellsten des gesamten Repertoires, was sich auch an unserem Beispiel über die Chanson Un gay bergier (Ein fröhlicher Hirte) zeigt. Ein Jahrhundert nach Cabezon waren es junge italienische Geiger und Komponisten, die der französischen Chanson eine neue instrumentzale Form gaben: die Canzona. Im Grunde handelte es sich dabei um autonome Instru-mentalstücke, die nur äußerlich, im sogenannten „Kanzonenrhythmus“ des Anfangs, an die Chanson anknüpften. Unsere zwei Kanzonen stammen von dem norditalienischen Monteverdi-Zeitgenossen Tarquinio Merula, der zwischen Bergamo und Verona ein skandalumwittertes Leben führte.