Serenata (1927)
Werkverzeichnisnummer: 3297
1. Marcia. Allegro vivace e ritmico
2. Minuetto. Allegretto grazioso
3. Notturno. Lento, grave
4. Gavotta. Tempo di „gavotte“ molto vivace e spiritoso – Musette
5. Cavatina. Adagio molto e sentimentale
6. Finale. Vivacissimo, alla napoletana
In seiner Serenata für fünf Instrumente warf der Piemontese Alfredo Casella einen Blick über die Mitte Italiens bis tief in den Süden des Landes. In Turin geboren, wurde Casella später – auf einem Umweg über Paris, wo er studierte – zum Wahl-Römer. Eben dort, in Rom, schrieb er 1927 seine kammermusikalische Serenata. In sie hat er alles einfließen lassen, was die italienischen Regionen an Serenadenzauber zu bieten haben: einen Pinocchiohaften Marsch, galante Tänze aus den venezianischen Palazzi, eine römische Elegie für zwei Streichinstrumente und eine neapolitanische Tarantella als Finale.
Auf die kuriose Besetzung mit ihren zwei Holzbläsern, zwei Streichern und der fremdartig hineintönenden Trompete verfiel Casella durch einen Zufall. Unter ungeöffneten Briefen auf seinem Schreibtisch fand er 1927 die Ausschreibung zu einem Kammermusikwettbewerb für Werke mit drei bis sechs Instrumenten. Mehr aus Spaß schrieb er seine Serenata für fünf Musiker und schickte sie zur Musical Fund Society in Philadelphia, die den Wettbewerb veranstaltete. Es muss nicht verwundern, dass den Juroren in Amerika unter den 645 eingereichten Kompositionen gerade dieses taufrische, italienisch-sprudelnde Werk auffiel. Sie kürten es zusammen mit dem nicht minder charakteristischen 3. Streichquartett Béla Bartóks zum Preisträgerstück. Casella hatte seine Serenata schon fast vergessen, als er von dem Preis erfuhr. Später fand er das kleine Stück so reizvoll, dass er es für Kammerorchester arrangierte. In dieser Fassung wurde es zu einem seiner erfolgreichsten Stücke, während die preisgekrönte Urfassung für fünf Instrumente äußerst selten zu hören ist.
Neben Bartóks 3. Streichquartett zu bestehen, zeugt von hohem musikalischem Anspruch. In Casellas Serenata verbirgt er sich hinter einer so anmutigen italienischen Rokoko-Fassade, dass man das Moderne des Stückes ganz entspannt als pittoreske Dreingabe genießen kann. Im Sinne der Tradition klassischer Serenaden eröffnet ein launiger Marsch das Geschehen – er suggeriert den Aufmarsch der Musiker zum Ständchen. Gitarrenartig greifen die Streicher (bildlich gesprochen) in die Saiten, während Klarinette und Fagott einander ein flinkes Marschmotiv zuspielen. Um dem Ganzen mehr militärische Form zu geben, mischt sich die Trompete mit einer Fanfare ein. Holzbläser und Streicher wagen ein Doppelfugato über das Marschthema (Thema und Umkehrung werden gleichzeitig verarbeitet). Die Trompete freilich lenktmit einem Solo aus plappernden Staccato-Triolen unversehens in buffoneske Gefilde. Die Wiederkehr des Marschthemas beschließt den Satz.
Sind wir hier gleichsam noch auf der Straße (oder venezianisch gesehen auf dem Kanal), so öffnen sich im zweiten Satz die Pforten in einen vornehmen Salon: Im Allegretto grazioso paaren sich die Instrumente zum galanten Menuett. Dämpfer bei den Streichern und zarte Klangvaleurs der Bläser verleihen dem Lieblingstanz der höfischen Gesellschaft eine fast träumerische Aura. Zurück ins Volksleben Italiens lenkt der dritte Satz, Notturno. Hinter seiner nächtlich verhangenen Klangaura verbirgt sich der zweiteilige Aufbau neapolitanischer Volkslieder: düster-dramatisch in Moll im ersten Teil, zart tröstend in Dur im zweiten. In die Flageoletts dieses Schlusses mischt sich denn auch tatsächlich eine Volksliedmelodie ein. Sie wird von der Trompete zu Quasi-Gitarrenklängen der Streicher und des Fagotts gespielt.
Bevor sich am Ende alle Instrumente zur wirbelnden Tarantella vereinen, hat Casella den Bläsern und den Streichern jeweils ihre eigene Episode geschenkt: ersteren in Form einer barocken Gavotte mit einer Musette (einem Dudelsack-Tanz) als Trio, letzteren in Form einer fast zu schönen Cavatina im Stil des italienischen Belcanto. Dem rasenden Reigen des Finales blieb der Norditaliener Casella nichts schuldig. Der Name der Tarantella rührt bekanntlich daher, dass alle Beteiligten „wie von der Tarantel gestochen“ sich gebärden. Das verlangt von den Musikern nicht mehr nur venezianisches, sondern süditalienisches Temperament.
Karl Böhmer