Sextett B-Dur für Flöte, Oboe, Klarinette, Fagott und zwei Hörner, op. 271
Werkverzeichnisnummer: 3233
1. Allegro moderato
2. Adagio molto
3. Allegro moderato
„Ich bin mir ganz klar darüber, dass ich in der Gegenwart keine Rolle mehr spiele“, vermerkte nüchtern und ohne Anflug von Sentimentalität der Komponist Carl Reinecke am Ende eines langen arbeitsreichen Lebens. 35 Jahre, länger als jeder andere Dirigent, hatte der geborene Hamburger das Gewandhausorchester in Leipzig geleitet und daneben am Konservatorium der Stadt gelehrt, dessen Direktor er von 1897 bis 1902 war. Damit war er gleich doppelt in die Fußstapfen Felix Mendelssohns getreten, der beide Institute zu dem gemacht hatte, was sie heute noch sind.
Reinecke trat aus dem Schatten des großen Vorgängers mit Selbstbewusstsein heraus: Als glänzender Pianist und souveräner Dirigent, Musikschriftsteller und Lehrer war er eine Autorität, und im zähen Ringen mit den Leipziger Bürgern gelangen ihm sogar gewagtere Programme und flexiblere Strukturen im konservativen Musikleben. Heute gilt Reinecke als Epigone von Mendelssohn und Schumann, deren Geist ungetrübt noch über seinen letzten, nach 1900 geschaffenen Werken schwebt. Von der „chromalinsauren Luft“ der Jahrhundertwende, wie es Max Reger nannte, scheint man in der lichten Musikwelt seines Bläsersextetts von 1904 denkbar weit entfernt zu sein.
Das Sextett, op. 271, gehört zu Reineckes letzten Werken. 1904 komponiert, ist es ein Zeugnis für genialen Eklektizismus. Anklänge an Wagner und Strauss paaren sich zwanglos mit Brahmsscher Motivtechnik und Regerschen Modulationen. In der Besetzung erweiterte Reinecke das klassische Bläserquintett aus Flöte, Oboe, Klarinette, Horn und Fagott um ein zweites Horn, um mehr Klangvolumen zu gewinnen. Dies erklärt die mitunter orchestralen Klangballungen.
Im ersten Satz, Allegro moderato, spürt man, wie sehr sich der alte Reinecke von der Modulationskunst eines Max Regers inspirieren ließ: Eine an sich schlichte Melodie im Dreiertakt wird mit chromatischen Nebennoten angereichert. Ein redseliges Motiv der Flöte kommentiert das Thema, bevor es sich zu voller Klangpracht aufschwingt. Brahmssche Motivabspaltung paart sich mit Regerscher Modulationskunst zu einem farbigen Sonatensatz, in dem die Durchführung durchaus dramatische Akzente setzt.
Der langsame Mittelsatz, Adagio molto, umschließt in seiner Mitte das Scherzo – ein Experiment, das Reinecke von Brahms und anderen übernahm. Der langsame Teil beginnt so, als sei er einem Frühwerk von Richard Strauss entlehnt: mit einem Hornruf, den satter Hörner-Fagottklang terzenselig abfedert. Die Klarinette greift die Arabeske auf und reichert sie mit Wagnerschen Doppelschlägen zum Hauptthema an, das an eine Opernkavatine gemahnt und selbstgenügsam in sich verharrt. Triolenkaskaden der Flöte umspielen in hoher Lage ein zweites Motiv in Moll, woraus ein lebhafter Dialog zwischen der Flöte und den Unterstimmen entsteht, bevor das Hauptthema selbst ins hohe Holzbläserregister wandert. Dadurch ist klanglich der Boden für den viel helleren Mittelteil bereitet, das quicklebendige Scherzo, das Reinecke wie erwähnt in den langsamen Satz eingelegt hat. Auch hier ist es die Flöte, die mit flirrenden Staccatopassagen den Ton angibt. Man spürt die Nähe zu jenem Flötenkonzert, das Reinecke eben um diese Zeit für Maximilian Schwedler, den Soloflötisten des Leipziger Gewandhausorchesters, geschrieben hat. Das Scherzo hat sein eigenes kurzes Trio, eine Art Volkstanz im burschikosen Klang von Horn und Oboe. Darauf folgt die Reprise des Scherzo-Hauptteils, in der die flötistische Bravour einen kessen Höhepunkt erklimmt. Ein Trugschluss setzt dem ein jähes Ende: Horn und Klarinette führen wagneresk bedeutungsschwer das Adagiothema wieder ein. Es folgt die veränderte Reprise des Adagio-Hauptteils.
Im Finale hat Reinecke den humoristischen Qualitäten der Bläser freien Lauf gelassen. Da quäkt die Oboe, flirrt die Flöte, tönen die Hörner vollmundig. Über einem burschikosen Klanggrund des Fagotts entwickelt sich ein Rondothema im Volkston – Dorfmusikanten, die eine wienerisch angehauchte Gavotte zum besten geben. Die virtuosen Anforderungen nehmen in den Überleitungen erheblich zu, verschiedene Episoden kontrastieren mit dem Rondothema. Zuletzt verwandelt sich das Thema in einen sentimentalen langsamen Walzer, womit der Satz den Ton gehobener Kaffeehausmusik streift. Die Stretta dagegen, ein brillanter Endspurt der sechs Bläserakrobaten, leugnet nicht das Vorbild des Till Eulenspiegel von Strauss.