„Wiener Blut“, Walzer, op. 354
Werkverzeichnisnummer: 3211
2003
JOHANN STRAUß (SOHN)
Walzer
„Und ich sage Euch, schauet die Taufbücher an und zählet sie nach, die unehelichen Geburten, und gehet denselben nach und Ihr werdet finden bei den Menschen, daß der Anfang – ein Walzer von Strauß ist.“ Man muss nicht gerade die Sprache biblischer Weissagungen bemühen, wie es in diesem Fall das Wiener Salonblatt Der Floh tat, um die sozialen Auswirkungen des Wiener Walzers zu beschreiben. Johann Strauß – Vater wie Sohn -, das war die in die Welt gekommene Sünde und Erlösung zugleich. Denn nicht nur zwei Herzen gerieten im Dreivierteltakt Wiens in Wallung, sondern ganze Heerscharen: „Ich sah Tausende sich wie wahnsinnig aneinander schmiegen und in schamloser Umarmung dahinfliegen und ihre Augen funkelten und ihre Wangen glühten und wo sich der Busen befand, da wogte er“, heißt es weiter im zitierten Bericht. Es passt gut zu diesem Geist rückhaltloser Hingabe an das allzu Menschliche, dass zu den großen Wiener Redoutensälen seinerzeit ein Entbindungsraum gehörte, der für all jene Damen bestimmt war, die sich erst in letzter Sekunde vor der Niederkunft vom Dreivierteltakt losreißen konnten.
Den Wienern juckte es im Zeh, wenn „Schani“ Strauß den Dreivierteltakt nach altwiener Art zelebrierte, also mit „Heberl“, der verzögerten dritten Taktzeit: „Im Carltheater haben die Besucher während der Aufführung von Strauß‘ neuer Operette nur den einzigen Wunsch, daß die Bänke hinausgeschafft werden sollten.“ Die Journalisten der Epoche griffen gar zu elektrischen Metaphern, um die Wirkung der Strauß-Walzer zu beschreiben: „Jetzt durchzuckt es uns elektrisch vom Scheitel bis in die kleine Zehe, jetzt arbeitet der da oben Funkensprühende wie eine galvanische Batterie.“ Die Liste solcher Zitate ließe sich ad infitum fortschreiben, doch wir halten uns lieber an einen Gewährsmann, der Strauß näherstand als viele andere: Johannes Brahms.
„Na, diese Abende bei Strauß! Und die Frau! Und der Champagner! Und diese Walzer“, soll Brahms mit für ihn seltener Begeisterung ausgerufen haben. Der von Ignatz Schnitzer überlieferte Ausspruch passt so recht ins Bild jener feucht-fröhlichen Abende, die Brahms bei dem Freund verlebte. Strauß treffen – in Baden-Baden, wo sie sich 1872 kennenlernten, in Wien oder in Bad Ischl -, war für Brahms stets ein Fest. Dem Baron Ludwig von Dózsi verdanken wir eine rührende Schilderung des zu vorgerückter Stunde inspirierten Walzerkönigs, wie ihn auch Brahms erlebt haben muss: „Es war wirklich rührend, sein kindliches Lachen, das Blitzen seiner Augen zu sehen, wenn er Einem etwas vorspielte, das ihm in der vorigen Nacht „so um halb drei“ bei der dritten Flasche Kutscherwein eingeschossen war. Was er sich selbst zuschrieb, war dann die Arbeit, die Instrumentation, das Ausscheiden des Rohen… Und sein Ehrgeiz war, sich zu vertiefen, zu entwickeln, es den großen, ewigen Meistern, denen er sich im musikalischen Urwesen verwandt wußte, in seinem Genre möglichst gleichzuthun.“
Brahms schätzte beide Seiten seines Freundes: das „musikalische Urwesen“ und die gewissenhafte „Arbeit“. Berühmt geworden ist die verbale Verneigung, die er auf den Notenfächer von Adele Strauß schrieb: den Anfang des Donauwalzers mit der Bemerkung „leider nicht von mir!“ Ähnlich dürfte er über die drei Straußwalzer unseres Konzerts gedacht haben.
Wien spielt in ihnen gleichsam die erste Geige. Die explodierende Donaumetropole mit ihren nahezu zwei Millionen Einwohnern lieferte Strauß hinreichendes Anschauungsmaterial für die unterschiedlichsten Walzer-Betrachtungen: von G’schichten aus dem Wienerwald über Neu-Wien bis hin zum Wiener Blut. Als Strauß 1873 diesen nachmals so erfolgreichen Walzer schrieb, stockte den allermeisten Wienern das sonst so sanguinisch leichtflüssige Blut in den Adern: der „schwarze Freitag“ des 9. Mai 1873 vernichtete an der Börse mit einem Schlag kleine wie große Vermögen. Urplötzlich war „das konjunkturell total überhitzte System des Wirtschaftsliberalismus in sich zusammengebrochen“ (Anton Mayer). Der Walzerkönig bot dem Stimmungstief Paroli und zauberte eine hinreißende Walzerfolge zum Lob des Wiener Stoizismus aufs Parkett.
Auch sonst erwies sich Strauß als Diplomat in politischen Fragen, die den Vielvölkerstaat schon damals zu zerreißen drohten. Der sogenannte Ausgleich des Jahres 1867 zwischen Österreich und Ungarn hatte der magyarischen Hälfte der Dynastie wirtschaftliche Vorteile eingebracht, die in Wien mit größtem Misstrauen betrachtet wurden. Andererseits gab sich die Stadt rückhaltlos dem Taumel der ungarischen Musik hin. Strauß brachte die beiden Seiten der Ungarnfrage in seiner Operette Der Zigeunerbaron zu einem friedlichen Ausgleich. Die turbulente Handlung im Banat endet – natürlich – in Wien. Ursprünglich als Oper geplant, wurde der Zigeunerbaron letztlich doch als Operette verstanden, als deren Walzeremblem der Schatzwalzer ins Repertoire einging.
Kaiser Franz Joseph, sonst kein Theaterfreund, wohnte der Premiere des Zigeunerbarons 1885 höchstselbst bei und lobte den Komponisten für seine „Oper“. Strauß revanchierte sich für das Kompliment 1889 mit der Komposition des Kaiserwalzers. Wieder traf das Stück auf eine erschütterende äußere Situation, den Selbstmord des Thronfolgers Rudolf mit seiner Geliebten Mary Vetsera im Jagdschloss Mayerling. Die Melodien des Kaiserwalzers spielten über diesen neuerlichen Bruch im Gefüge der Monarchie mit einer Eleganz hinweg, als ob es ihn nie gegeben hätte. „Solange ein Straußwalzer klingt, verblassen die Gedanken,“ schrieb Franz Grasberger damals. Paradoxerweise wurde dieser habsburgischste Straußwalzer in der deutschen Kaiserstadt Berlin uraufgeführt!