"En Famille" ("Im Familienkreis") | Kammermusikführer - Villa Musica Rheinland-Pfalz

Raymond Loucheur

"En Famille" ("Im Familienkreis")

„En Famille„ („Im Familienkreis“) Fünf kurze Stücke für Klarinettensextett

Besetzung:

Werkverzeichnisnummer: 3206

Satzbezeichnungen

1. Papa. Tempo di Marcia

2. Maman. Lento

3. Philibert (12 ans). Vivo

4. Sylvie (20 ans). Quasi una valsa

5. Le Cercle de Famille. Tranquillo

Erläuterungen

2003
RAYMOND LOUCHEUR
Sextett En famille

In den Blaskapellen der Region Seine-Maritime, in Le Havre und anderen Orten seiner Jugend, tat der kleine Raymond Loucheur in den Jahren um 1910 seine ersten Schritte als Klarinettist. Damals konnte noch keiner ahnen, dass aus dem begabten Schüler des Provinz-Pädagogen Henry Woollett einmal der Direktor des großen Conservatoire in Paris werden würde. Umso rührender mutet es an, wenn Locheur später seinen Kindertagen als Klarinettist im behüteten Familienkreis ein klingendes Denkmal setzte: das Sextett für Klarinetten mit dem Titel En famille.

Loucheur schrieb es 1932 in Rom, wohin er als stolzer Rompreisträger gereist war. Dem brillanten Studenten von Nadia Boulanger, der Doyenne der französischen Komponistenschule, war es 1928 im ersten Anlauf gelungen, den begehrten Prix de Rome zu gewinnen.

Die drei Jahre in der Villa Medici in Rom genoss Loucheur in vollen Zügen. Er schrieb dort seine drei wichtigsten Frühwerke: die 1. Symphonie, das Streichquartett und das Klarinettensextett. Für den jungen Mann war es eine schöpferische Auszeit vom anstrengenden Job als Musiklehrer an den städtischen Schulen von Paris, wo er Kindern aus allen sozialen Schichten die Musik beibringen musste – „Kontakt zur sozialen Realität“ nannte er diese Erfahrung später.

Zurück in Paris erlebte Loucheur die erfolgreiche Uraufführung von Sextett, Symphonie und Quartett. Dennoch blieb er ein passionierter Pädagoge, was ihm im II. Weltkrieg das Amt des Generalinspekteurs der Musikausbildung in Frankreich, nach dem Krieg das Direktorat des Conservatoire einbrachte. 1974 erhielt er den großen Nationalpreis als ein „ausgezeichneter Komponist von farbenreicher Musik“, wie es in der Begründung hieß. Sein Kollege Marc Honegger pries an seinen Werken die „große rhythmische Vitalität und die Tiefe des dramatischen Ausdrucks.“ Trotz dieser Eigenschaften blieb sein Schaffen in Deutschland bis heute weitgehend unbekannt.

In seiner Jugend und im Schuldienst formte sich Loucheurs liebevoller Blick auf Familienverhältnisse, wie er sie in seinem Klarinettensextett porträtierte. Die fünf „kurzen Stücke“ stellen uns in launig-charakteristischer Manier eine vierköpfige Familie vor, die der Komponist genauer beschrieb. Zuerst lernen wir den Herrn Papa kennen, eine imposante Gestalt mit militärischer Vergangenheit: „Im Rhythmus eines Marsches hält der Chef de famille seinen Einzug. Atemlos ruft er Erinnerungen an seine Jugend wach: der Gefreite, der erste Ball…“. Die Führung fällt in diesem Satz natürlich den väterlichen Bässen zu: Bass- und Kontrabassklarinette.

Ganz von mütterlicher Wärme umleuchtet ist das Bild der Maman im zweiten Satz, einem wunderschönen Lento in D-Dur, dessen „lange, gefühlvolle Phrase“ die Altklarinette ausspinnt. Wieder mischt sich der Papa ein „und stört die vertraute Stimmung, doch Gott sei dank nur für kurze Zeit“.
Die beiden Kinder sind durchaus gegensätzliche Charaktere: Sohn Philibert entpuppt sich mit seinen 12 Jahren als vorwitziges Bürschlein: „gleichgültig den Ermahnungen des Vaters gegenüber, pausenlos herumwirbelnd“, dabei mit noch etwas schriller Stimme, wie uns die Es-Klarinette verrät. Seine ältere Schwester Sylvie kostet derweil träumerisch die Wonnen der ersten Liebe aus. Im Rhythmus eines langsamen Walzers zeichnet die B-Klarinette den graziösen Hüftschwung der 20jährigen nach.

Das Sextett schließt mit einem Gruppenbild: Le Cercle de Famille. Die ganze Familie versammelt sich zu einem perfekten Akkord in äußerter Ruhe, fast so, als habe man feierlich vor einem Fotografen Aufstellung genommen. „Wie in Zeitlupe ziehen alle Themen, die die Familienmitglieder charakterisieren, noch einmal vorüber. Ein Gähnen, die Uhr schlägt Zehn.“

In einem Interview gestand Raymond Loucheur einmal, dass er sich in der Orchestermusik mehr zuhause fühle als in der Kammermusik. Sein Sextett freilich ist eine so einleuchtende Umsetzung der Idee von der Klarinettenfamilie, wie sie wohl nur einem einfallen konnte, der in seiner Jugend selbst Klarinette geblasen hat. (Karl Böhmer)