Cantate „Médée“
Werkverzeichnisnummer: 3192
2003
DIE MUSIK DER POMPADOUR
1745 wurde Jean-Antoinette d’Ètiolles, geb. Poisson, die Geliebte des französischen Königs Ludwig XV. Obwohl sie eine Bürgerliche war ? Tochter eines Metzgers und mit dem Neffen eines Steuerpächters verheiratet ? übertraf sie an Bildung und Geschmack die Mehrzahl der adligen Damen Frankreichs. Sie war überaus belesen, was der Dramatiker und Philosoph Voltaire an ihr schätzte; sie korrespondierte mit Montesquieu und Diderot, war Mäzenin für Künstler und Musiker, denen sie den Weg an den Hof ebnete. Dennoch kommt Madame de Pompadour in keinem Musiklexikon unter den Namen der bedeutenden Mäzene vor ? ungerechterweise. Unsere drei Konzerte enthalten Musik ihrer Zeit, gespielt auf den Instrumenten des 18. Jahrhunderts. Ohne die originalen Klangfarben des Cembalos und der Barockgeige, der Flûte traversière und der Viola da Gamba büßt die französische Musik vieles von ihrem Zauber ein. Die Auswahl der Werke legt einen bunten Querschnitt durch die Musik, die die Pompadour kannte, liebte und förderte.
Unser Panorama beginnt in den Kleinen Kabinetten, jener Enklave von Privatheit, die die Pompadour klugerweise für den menschenscheuen König im öffentlichen Hofleben von Versailles einrichtete. Dorthin zog man sich abends zurück, vergnügte sich beim Kartenspielen und bei Musik, vorzugsweise bei Kantaten. Die französische Cantate, Gegenstück zur italienischen Solokantate des Barock, ist großen Themen aus der antiken Mythologie gewidmet. Das Bild der Zauberin Medea, die ihre Kinder ermordet, weil sie ihr Mann Jason verlassen hat, war in diesem Zusammenhang eine Mahnung an die Treue eines Königs, die Ludwig XV. überhörte. Die Musik dazu schuf Louis-Nicolas Clérambault, neben Lully der wichtigste Repräsentant der französischen Hofmusik im großen, alten Stil. Die Pompadour hat diese ehrwürdige Musik noch gerne und regelmäßig aufgeführt. In den Petits Cabinets verband sie sich mit moderner Kammermusik wie den Flöten- und Violinsonaten von Jean-Marie Leclair. Diesem unbestritten größten Geiger Frankreichs in jener Zeit sagte man nach, wie ein Engel zu musizieren.
Das zweite Programm führt uns nach Paris, und auch dort war die Musik der Pompadour allgegenwärtig. Im 25. Concerto comique von Michel Corrette ? das nur deshalb komisch heißt, weil es als Zwischenaktmusik in den Opéras comiques erklang ? wird als Mittelsatz eine Arie zitiert, die die Pompadour selbst auf der Bühne gesungen hat: „Quand on sçait aimer et plaire“ aus dem Dorfwahrsager von Jean-Jacques Rousseau. Der Philosoph, den die Pompadour ironisch den „Kauz“ nannte, hatte diesen Versuch einer französischen Operette im italienischen Stil ihr gewidmet. Sie war singend der Star etlicher Produktionen und belehrte ihre Zeitgenossen darüber, wie man „lieben und gefallen“ solle. Die Auseinandersetzung zwischen italienischer und französischer Musik, die Rousseau in der öffentlichen Diskussion anheizte, bestimmte das Schaffen fast aller Pariser Komponisten jener Zeit. Michel Blavet, Soloflötist der Pariser Oper, hatte sich ganz dem italienischen Lager zugeschlagen und schrieb ein Flötenkonzert auf den Spuren Vivaldis. Als zu italienisch für den Hof in Versailles wurde die Musik von François-André Philidor abgelehnt. Im Hauptberuf Europameister im Schach, war der Spross einer bekannten Musikerfamilie dank seiner Schach-Tourniere schon früh nach England und Deutschland gekommen, wo längst der italienische Stil regierte. Dies hat Philidor zu seiner italophilen Kunst der Modulation inspiriert.
Trotz der hohen Qualität der französischen Kammermusik jener Epoche stand das Musiktheater im Zentrum des Interesses. Auch die Pompadour ließ Opern des größten französischen Komponisten aufführen: Jean-Philippe Rameau. Tänze aus den Surprises de l’amour und anderen ihr gewidmeten Bühnenwerken hat der Meister aus Dijon in seinen Pièces de clavecin en concert verarbeitet, so etwa die mitreißenden Tambourins aus Dardanus. Auch in den Sauvages aus Correttes Concert haben wir einen damals weltbekannten Tanzsatz von Rameau vor uns. Im ersten Satz seines III. Concert hat Rameau seinem wichtigsten Gönner gehuldigt: dem obersten Steuereinnehmer Le Riche de Laplonière. Dessen Frau setzte sich 1750 in den Kopf, der Marquise de Pompadour den König auszuspannen – vergeblich. In dieser Weise durchdringen sich in der Musik der Pompadour-Zeit italienischer und französischer Geschmack, Theatralisches und Galantes, höfischer Tratsch und amouröse Intrigen.
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Im Neuen Palais in Potsdam hängt ein atemberaubendes Gemälde eines französischen Meisters aus dem 18. Jahrhundert, das die wutschnaubende Medea auf ihrem Drachenwagen zeigt, wie sie die Leichen ihrer Kinder triumphierend in die Höhe hält, während Jason zerstört und entsetzt die Szene von unten beobachtet. Das Bild zeigt nicht nur die Grausamkeit der antiken Tragödie, wie sie Euripides in dieser Szene auf die Spitze getrieben hat; sie vermittelt auch einen Eindruck von der Faszination, die gerade dieser Stoff im Barock und bis heute auf die Franzosen ausübt: Medea, die Tochter des Königs von Kolchis, leidenschaftlich und mit Zauberkräften begabt, hilft dem schönen Jason und seinen Argonauten, das Goldene Vließ zu rauben. Nachdem sie den Vater um das kostbare Geschmeide betrog, flieht sie mit den Fremden aus der Heimat. An Jason, der bald ihr Ehemann und Vater ihrer Kinder wird, ist sie nun auf Gedeih und Verderb gekettet. Das Verderben stellt sich bald ein, denn Jason lernt in Korinth die schöne Königstochter Kreusa kennen und lieben. Er verlässt Medea und die Kinder. Die Heimatlose wird der Insel verwiesen und sieht keinen anderen Weg als Rache und Vernichtung: Sie vergiftet Kreusa und ersticht die eigenen Kinder vor den Augen Jasons.
Wer die Film- und Bühnenschauspielerin Isabelle Huppert als Medea erlebt hat, weiß, wie sehr diese zum Monstrum pervertierte Frau dem französischen Verständnis von „Tragédie“ bis heute entspricht. Nie ergreift die französische Seele dabei gegen die Kindesmörderin Partei, gegen die düstere Zauberin mit dem Hang zu den bösen Mächten. Stets ist es die betrogene Frau, die vom Mann schmählich Verlassene, für die das Herz der Künstler in Frankreich schlägt. So auch in den barocken Fassungen des Stoffes, deren größte Marc-Antoine Charpentiers „Médée“ von 1693 ist. Die konzentrierteste französische Version des Mythos ist die Kantate von Louis-Nicolas Clérambault von 1710.
Zu Beginn erzählt die Sopranistin die Vorgeschichte im einfachen Rezitativ. Dann aber mischt sich eine Solovioline mit schmerzlichen Tönen in die Szene, und Médée erscheint: Sie bereut den Verrat an ihrer Familie. Vergeblich versucht sie, die Stimme der „Tendresse“, der Zärtlichkeit, noch einmal sprechen zu lassen: Der „funeste jour“, der finstere Tag, lässt ihr nur den einen Weg: zur Rache. Cello und Cembalo stürmen so heftig wie Médées Zorn, die Solovioline beschreibt die Rachegefühle der Zauberin im Rhythmus einer „Courante“ gemäß dem Text: „Courons à la vengeance“. Der Hass beginnt, die Liebe in Medeas Herzen zu vertreiben. Als sie die letzten Triebe ihrer Zuneigung beschwört, mischt sich der klagende Ton der Traversflöte in den hohen Gesang. Dann erst vertreibt die Eifersucht den letzten Anflug von Mitleid: Médée entschließt sich zu grausamer Vergeltung an ihrem Gatten und seiner neuen Liebe. Zu einem Geigensolo in schwer lastenden punktierten Rhythmen mischt sie den Zaubertrank, der Kreusas Gewand mit tütlichen Flammen vergiften soll, und beschwört die Höllenbrut zu erscheinen, um ihr bei ihrem Vernichtungswerk beizustehen: „Cruelle fille des Enfers“. Diese „Èvocation“, eine Geisterbeschwörung im Stil der großen Oper, gehört zu den suggestivsten Momenten der gesamten französischen Barockmusik.
Mit der Wut erwacht auch das Tempo wieder: Zu stürmischen Läufen der Streicher hebt sich Medea auf ihrem Drachenwagen in den Himmel („Volez“), um ihr Werk zu vollenden. Die letzte blutige Konsequenz ihrer Rache bleibt der Fantasie des Hörers und einem virtuosen Nachspiel der Violine überlassen. Wir sind bei jener Szene angelangt, die auf dem Potsdamer Gemälde den Höhepunkt der Tragödie bezeichnet.
Veröffentlicht wurde dieses Meisterwerk französischer Kantatenkunst im Paris des Jahres 1710 ? im Interregnumn der französischen Oper zwischen Lully und Rameau. Einen Teil der Dramatik ihrer größten Bühnenform gaben die Franzosen damals an die noch junge Kantate ab, um sie sozusagen in die Privatsphäre zu transferieren. Französische Barockkantaten sind kleine Opern für den Salon, und der Pariser Geiger und Organist Cléramabault galt als ihr unbestrittener Meister. Mit „Médée“ eröffnete er 1710 die Serie seiner 25 Kantaten, die zu den klassischen Mustern des Genres in Frankreich wurden: „Er fand Gesänge und Ausdrucksnuancen, die nur ihm zu Gebote standen, und die ihn als das einzige und wahre Modell (der Kantatenkomposition) erscheinen ließen“ rühmte ein Zeitgenosse, während ein anderer an den Werken den Kantaten pries: „den graziösen Gesang, die Kraft der Begleitung und die Schwierigkeit der Ausführung“. In „Médée“ weichen die „graziösen Gesänge“ den furchteinflößenden.