Doppelkonzert a-Moll, op. 102
Werkverzeichnisnummer: 3188
1. Allegro
2. Andante
3. Vivace non troppo
2003
JOHANNES BRAHMS
Doppelkonzert a-Moll, op. 102
Brahms und Tschaikowsky hatten am selben Tag Geburtstag, am 7. Mai. Das war fast das einzige, was die beiden so unterschiedlichen Charaktere miteinander verband. Musikalisch wie menschlich standen sie sich fern, was der Geiger Adolf Brodsky und seine Frau 1888 schmerzlich erfahren mussten. Brodsky, der Tschaikowskys Violinkonzert aus der Taufe gehoben hatte, war damals Professor in Leipzig und hatte den durchreisenden Komponisten am Neujahrstag zum Essen eingeladen. Wohlweislich hatte er ihn verschwiegen, dass auch Brahms zu den Gästen gehörte und bei dieser Gelegenheit sein neues Klaviertrio c-Moll, op. 101, zum Besten gab, wobei Tschaikowsky unweigerlich und ohne großes Vergnügen zum Zuhörer wurde. Frau Brodsky schilderte das kuriose Zusammentreffen, zu dem sich auch noch Edvard Grieg gesellte:
„Tschaikowsky und Brahms waren sich noch nie begegnet. Es dürfte schwerfallen, zwei Menschen zu finden, die sich unähnlicher sind. Tschaikowsky hatte etwas Elegantes und Kultiviertes in seinem gesamten Verhalten und war von ausgesuchter Höflichkeit. Brahms hingegen, von kleinem, eher untersetztem Wuchs und mit mächtigem Schädel, war ein Ausbund an Energie und Stärke und erklärtermaßen ein Feind aller sogenannten „guten Manieren“. Sein Gesichtsausdruck war häufig leicht sarkastisch. Als Adolf Brodsky sie einander vorstellte, sagte Tschaikowsky mit seiner sanften, melodischen Stimme: „Störe ich Sie auch nicht“ – „Nicht im geringsten-, gab Brahms mit seiner charakteristischen rauhen Stimme zur Antwort… Die Situation hätte schwierig werden können, aber in diesem Moment tat sich die Tür weit auf und herein kamen unsere lieben Freunde, Grieg und seine Frau, die, wie immer, eine sonnige Stimmung verbreiteten… So kam es, dass die drei Komponisten beisammen saßen, und alle waren guter Dinge. Ich sehe noch Brahms vor mir, wie er nach einem Schälchen mit Erdbeermarmelade greift und verkündet, dass dies alles für ihn sei und niemand etwas abhaben könne. Es wirkte eher wie ein Kinderfest als wie die Zusammenkunft großer Komponisten.“
Die geschilderte Begegnung spielte sich wenige Wochen nach der Uraufführung des Doppelkonzerts a-Moll, op. 102, ab, das Brahms im Oktober 1887 im Kölner Gürzenich zum ersten Mal dirigiert hatte. In diesem letzten seiner Solokonzerte ließ er Violine und Cello auf ähnliche Weise miteinander dialogisieren wie in dem c-Moll-Klaviertrio, das Tschaikwosky so wenig behagt hatte. In beiden Werken kündigt sich in der Wucht der Themen, der lakonischen Knappheit der Motivverarbeitung und dem herbstlich-melancholischen Duktus der späte Brahms an. Beide Werke sind denn auch nacheinander entstanden: in den Sommern 1886 und 1887 am Thuner See, Brahms‘ schweizerischer Sommerfrische.
Doppelkonzerte für Violine und Violoncello sind vor Brahms kaum zu finden, allenfalls bei Antonio Vivaldi. So waren es denn auch weniger historische Vorbilder denn ganz private Motive, die Brahms zu der Kombination der Soloinstrumente bewogen. Den Violinpart schrieb er für den damals berühmtesten Geiger Deutschlands, Joseph Joachim, seinen längsten und treusten Freund, den Cellopart für Robert Hausmann, den Cellisten im Streichquartett Joachims. Die beiden Solisten hatten es also täglich im Quartettspiel miteinander zu tun und konnten die großen Dialoge zwischen Geige und Cello in der Kammermusik sozusagen aufs Orchester übertragen. Es war dabei Hausmann, der durch seinen Wunsch nach einem Cellokonzert Brahms in die Richtung des Doppelkonzerts drängte.
Nach der 2. Cellosonate, op. 99, die Hausmann uraufgeführt hatte, erwartete er vom Komponisten ein Konzertstück für sein Instrument. Brahms verfiel aber auf den weitaus originelleren Gedanken eines Doppelkonzerts mit Geige.
Im allerprivatesten Rahmen gab ihm dies die Gelegenheit, sich endlich mit seinem Freund Joseph Joachim zu versöhnen. Die beiden hatten sich im Zuge von Joachims Scheidung entzweit, da Brahms die notorische Eifersucht seines Freundes gegenüber seiner Ehefrau, einer berühmten Altistin, für unbegründet gehalten hatte. Im Rahmen des Scheidungsverfahrens war vor Gericht ein Brief des Komponisten an Frau Joachim verlesen worden, der seinen Freund in schlechtem Licht hatte erscheienen lassen. So war es zu der jahrelangen Entfremdung gekommen, die nun mithilfe des Doppelkonzerts endlich ad acta gelegt wurde bezeichnenderwiese im Hause Clara Schumanns, der Dritten im Bunde der brahmsschen Jugendzeit. Brahms und Joachim sahen sich nach Jahren zum ersten Mal wieder und gingen das Doppelkonzert gemeinsam mit Clara und Hausmann durch. Clara nannte das Werk nach diesem Treffen denn auch ein „Versöhnungswerk“.
Dennoch beginnt das Doppelkonzert in wenig versöhnlichem Ton: wie ein Schicksalsschlag, knapp, wuchtig und kompromisslos wird das Hauptthema gesetzt, das aus nur drei Tönen a-g-e entwickelt ist. Den Aufschwung des Orchesters zum üblichen weit ausgreifenden Vorspiel verhindert das Cello mit einer Kadenz, deren schmerzliche Doppelgriffe, weite Lagen und Pizzicati um das Hauptthema kreisen. Unmittelbar danach werfen die Holzbläser das Seitenthema ein, das nun wiederum der Violine das Stichwort liefert. Aus der Violinkadenz wird rasch ein Duofantasie für die beiden Solisten, die in immer wildere und verzweifeltere Passagen mündet. Erst aus dieser Ballung streicherischer Energie in den Soloinstrumenten heraus entsteht das eigentliche Orchester-„Vorspiel“ – eine geniale Umkehrung der Verhältnisse im gewöhnlichen Solokonzert.
So wie Brahms zu Beginn das „männliche“ Cello dem kraftvoll-knappen, tragischen Hauptthema zuordnete, die „weibliche“ Violine dem weich-seufzenden Seitenthema, so ist auch die Rollenverteilung im weiteren Verlauf des Satzes. Ähnlich der Romeo und Julia-Ouvertüre von Tschaikowsky handelt es sich um ein Ringen zwischen lieblicher Idylle und tragischer Verstrickung. Das Cello zieht die Violine immer wieder in düster-gefärbte, auch erregte Dialoge hinein, in der Geige andererseits behauptet das liebliche Seitenthema sein Recht. Brahms hat dies auch in den Klangfarben des Orchester wunderbar differenziert ausgemalt: hier hohe Flöten- und Oboenklänge, dort tiefe Streicherlagen mit Klarinetten und Paukenwirbeln. Am Ende behält der tragische Ton des Hauptthemas die Oberhand.
Gegenüber dem gewaltigen Kopfsatz treten die beiden folgenden Sätze noch stärker zurück als in den anderen Konzerten von Brahms. Andante und Finale dauern zusammen so lange wie das Eingangsallegro. Dabei ist der Mittelsatz ganz als träumerisches Idyll angelegt. In Hörnern und Holzbläsern kündigt sich das Thema von fern an, das die beiden Solisten im Unisono zu reichen Streicherharmonien vortragen. In seinen schumannesken Wendungen gibt es beiden Solisten reiche Gelegenheit zu weit ausholenden, innigen Melodiebögen. Ein choralartiges zweites Thema ruft einen bewegteren, arabesken Dialog der Soloinstrumente hervor, der sich über zarten Klarinetten- und Flötenstimmen abspielt und eine dezente ungarische Färbung annimmt.
Dieser ungarische Ton, den der späte Brahms so sehr liebte, bestimmt das Finale. Sein Rondothema ist dem Cello in die Saiten geschrieben: ein eigenwillig trottender, tenoraler Tanz, in den die Violine schmachtende Terzen einstreut. Der rasch lebhafter werdende Dialog der Solisten wird von wilden ungarischen Einwürfen des Orchesters skandiert. Ein zweites Thema, wiederum ganz aus dem Cello und seinen sonoren Akkordgriffen erfunden, öffnet breitere Aussichten, ein drittes, wuchtiges Triolenthema lenkt nach Ungarn zurück. Figurationen im Stil ungarischer Zigeunermusik lassen nun auch einen Zug ins Virtuose erkennen, den Brahms in den ersten Sätzen tunlichst vermied. Nur am Ende geht es (dezent) um virtuosen Schlagabtausch, ansonsten ist das brahmssche Doppelkonzert das Musterbeispiel erfüllten Dialogs zwischen zwei Soloinstrumenten, die wie Dramatis personae auf einer Bühne in Klang und Ausdruck differenziert werden.