„Roméo et Juliette“ Fantasie-Ouvertüre h-Moll
Werkverzeichnisnummer: 3187
2003:
P. I. TSCHAIKOWSKY
Ouvertüre Romeo und Julia
Freunde und Bewunderer, die Pjotr Iljitsch Tschaikowsky in seinem Wohnhaus besuchten, berichteten, dass sich in seinem Arbeitszimmer direkt neben dem Schreibtisch ein Schränkchen mit Belletristik befunden habe, „meistens englische Ausgaben von Dichtern der Weltliteratur – Dante, Shakespeare, Byron, Milton“. Dem größten Dramatiker der Geschichte erwies der russische Komponist also die gebührende Ehre – in der Originalsprache. Dass ihm unter allen Dramen Shakespeares Romeo und Julia am meisten bedeutete, ist ebenfalls historisch verbürgt. Noch wenige Wochen vor seinem Tod trug er sich mit dem Gedanken, eine Oper über das Shakespeare-Drama zu schreiben. Er „erwähnte mehr als einmal und zu verschiedenen Zeiten seines Lebens Romeo und Julia, und mir scheint, dass es unter allen Sujets das Shakespearesche war, welches ihn bei weitem am stärksten anzog,“ berichtete Tschaikowskys Studienkollege und Freund Hermann Laroche.
Zu der Oper ist es nicht gekommen, doch die unmittelbare Identifikation schon des jungen Tschaikowsky mit der tragischen Liebe zweier junger Menschen schlug sich in seiner Ouvertüre Romeo und Julia von 1869 nieder. Er hat sie zweimal – 1870 und 1886 – überarbeitet. Sie beginnt fern von den tragischen Stürmen und Verstrickungen des Dramas in der Klangwelt des Klosters. Ein Choralthema der Streicher verkörpert die Gestalt des Pater Lorenzo, den Tschaikowskys Musik nicht als italienischen, sondern als russischen Mönch charakterisiert. In wundervollen Klangmischungen der Streicher und Bläser wird die Ruhe vor dem Sturm idyllisch ausgebreitet, bevor sich in den Flöten und Violinen das kämpferische Hauptthema des schnellen Teils ankündigt. Nach einem nochmaligen Zurücksinken in die friedliche Welt des Klosters bricht sich das Hauptthema gewalttätig Bahn: es symbolisiert den Hass zwischen den Familien Capulet und Montague. Violinen und Flöten liefern sich schrille Gefechte. Rasende Unisono-Läufe lassen die fanatische Verblendung der beiden Parteien erahnen, wuchtige Beckenschläge den tragischen Ausgang.
Mit einer denkbar knappen Überleitung baute Tschaikowsky die Brücke zum Seitenthema, das zu seinen berühmtesten Melodien gehört. Der sehnsüchtige Cellogesang, der es eröffnet und später von den Holzbläsern zu Hornseufzern aufgegriffen wird, verkörpert das sehnsüchtige Verlangen der Liebenden. Ein Einschub geheimnisvoll lispelnder Streicherakkorde dagegen drückt die Zartheit des Paares aus. Im späteren Verlauf der Ouvertüre gewinnt das Thema der Leidenschaft die Oberhand über das der zärtlichen Liebe.
Den weiteren Gang der Handlung anhand der Entwicklung der Themen zu verfolgen, ist leicht. Die tragische Verstrickung Romeos im erbitterten Kampf der beiden Familien – sein Mord an Julias Vetter Tybalt, die Flucht der Liebenden und das tragische Missverständnis, das zu ihrem Tod führt -, sind alle mit fast opernhafter Deutlichkeit auskomponiert. Eine Oper über das Sujet hätte Tschaikowsky kaum noch schreiben müssen, so meisterhaft hat er von den inhärenten thematischen Gegensätzen im Rahmen der Sonatenform gebrauch machte. Die Durchführung dient als kämpferischer Höhepunkt der Ereignisse, die Reprise als Wendepunkt, die zum Liebestod führt, die Coda als Apotheose des Liebespaares und damit der Liebe selbst. Zuvor wird – gemäß seiner Rolle im Drama – Pater Lorenzo mit seinem Thema aus der Einleitung noch einmal zitiert und mit den Themen der Liebenden verwoben.