Sinfonie Nr. 9 e-Moll „Aus der Neuen Welt“ op. 95
Werkverzeichnisnummer: 3181
1. Adagio – Allegro molto
2. Largo
3. Scherzo. Molto vivace
4. Allegro con fuoco
ANTONIN DVORAK
Sinfonie Aus der Neuen Welt
Sinfonische Meisterwerke bedürfen oft nicht nur der inneren Inspiration des Komponisten, sondern auch einer Stimulation von außen durch neue Lebensumstände oder einen besonderen Auftrag. Mrs. Jeanette Thurber war es, die als Direktorin des National Conservatory of Music in New York 1891 ihren Kolleginnen und Kollegen vorschlug, den Tschechen Antonin Dvorak zum neuen Direktor des Instituts zu berufen. Er sollte amerikanische Komponisten unterrichten und der jungen Nation den Weg zu einer „Nationalmusik“ weisen. Jahrzehnte später konnte Mrs. Thurber befriedigt feststellen: „Wenn ich auf meine 35jährige Tätigkeit als Präsidentin des amerikanischen Konservatoriums zurückblicke, dann gibt es nichts, worauf ich so stolz wäre, wie darauf, dass es mir gelungen ist, Dr. Dvorak nach Amerika zu bringen. Ich hatte das Privileg, einem der sinfonischen Meisterwerke der Welt den Weg zu ebnen.“
Es mangelte Dvorak nicht an Fantasie, sich das ganze Gewicht jener Sendung zu verdeutlichen, für den ihn die New Yorker ausgewählt hatten: „Die Amerikaner erwarten große Dinge von mir und als Hauptsache, dass ich ihnen den Weg in das gelobte Land einer neuen eigenständigen Kunst weise, kurz, ihnen helfe eine Nationalmusik zu schaffen! Wenn das angeblich kleine tschechische Volk solche Musik habe, warum sollten sie es nicht haben, wo doch Land und Volk so riesig sind!“ Die Idee der „Nationalmusik“- eine Musik, die den Charakter einer Nation widerspiegelt, indem sie sich aus ihren volksmusikalischen Quellen speist – wurde in Russland, Tschechien und Skandinavien geboren. In den 1890er Jahren galt Dvorak als der prominenteste Vertreter dieser Richtung, und so fiel die Wahl der sendungsbewussten Amerikaner auf ihn als den zukünftigen Lehrer ihrer Nation.
Die Größe Amerikas war das erste, was Dvorak bei der Ankunft in New York am 26.9.1892 beeindruckte. An Bord des deutschen Schiffs Saale bwunderte er die Freiheitsstatue („allein in ihrem Kopf können 60 Personen verweilen“, schrieb er nachhause) und die „Schiffe aus allen Weltteilen“. Obwohl er als regelmäßiger Gast in der Vier-Millionen-Metropole London von der schieren Dimension der 1,5-Millionenstadt New York kaum überrumpelt wurde und im übrigen seine Gastgeber mit perfektem Englisch überraschte, wurde ihm bald die Dimension des „American Way of Life“ bewusst. Klar erkannte er das Potential der Nation für die Zukunft: „Es gibt hier Dinge, die man bewundern muss, andere würde ich lieber nicht sehen, aber was hilft’s? … Wenn Amerika in allem so fortfahren wird, überholt es alles übrige.“ Dvoraks Sinfonie „from the new World“, wie er sie auf der Originalpartitur nannte, ist auch eine Sinfonie über die Größe der amerikanischen Nation.
Das zweite, was Dvoraks Suche nach einem authentisch amerikanischen Ton in der Musik beeinflusste, war sein grenzenloses Vertrauen in die Macht des Volkslieds. Er meinte dazu in einem Interview mit der Chicago Tribune: „Eine jede Nation hat ihre Musik. Es gibt italienische, deutsche, französische, tschechische und russische Musik, warum nicht auch amerikanische Musik? Die Wahrhaftigkeit dieser Musik hängt von ihren Charakterzügen, von ihrer Farbe ab. Ich meine damit nicht, dass man die Melodien von den Plantagen, den kreolischen oder südlichen, einfach nehmen und sie als Thema verarbeiten sollte, das ist nicht meine Absicht. Aber ich studiere bestimmte Melodien so lange, bis ich soweit durchdrungen bin von ihren charakteristischen Zügen, dass ich mir ein musikalisches Bild manchen kann, welches im Einklang mit diesen Zügen steht…“
Mit anderen Worten: Dvorak suchte nach Inspirationsquellen für eine amerikanische „Nationalmusik“ ausgerechnet bei den Opfern des amerikanischen Traums: im Spiritual der Afro-Amerikaner und in den Mythen und Klängen der Indianer. „Seit dem Zeitpunkt, da ich in dieses Land gekommen bin, interessiert mich die Musik der Neger und Indianer zutiefst. Charakter und Grundlage einer Nation sind in ihren Volksliedern enthalten, und deshalb widmete ich augenblicklich meine Aufmerksamkeit den heimischen Melodien.“
Auf der Suche nach diesen Quellen des amerikanischen „Volkslieds“ hatte Dvorak Helfer: Sein schwarzer Kompositionsschüler Harry Thacker Burleigh pflegte dem Meister in dessen New Yorker Wohnung in der 17. Straße Spirituals vorzusingen. Die Musik der Indianer war ungleich schwerer zu studieren, doch schließlich gab es die Shows von Buffalo Bill, und genau dorthin entführte Mrs. Thurber ihren Schützling Dvorak, um ihm einen authentischen Eindruck von indianischen Tänzen zu vermitteln.
All diese Impressionen, die Größe New Yorks, die Spirituals und Indianertänze, später auch die Weite des Mittelwestens, fanden ihren Niederschlag in Dvoraks Musik aus der Neuen Welt. Auch literarische Quellen spielten dabei eine Rolle, besonders das epische Gedicht Hiawatha von John Longfellow, das er bereits seit 1872 in tschechischer Übersetzung kannte. Die Erzählung von einem heilbringenden Indianer-Häuptling, der seinen Stamm ein Leben im Einklang mit der Natur lehrt, aber schon den Untergang durch die Hand des weißen Mannes ahnt, beeindruckte Dvorak so sehr, dass er ihr ein großes Vokalwerk widmen wollte. Die Gedanken, die in jene „Oper oder Kantate“ hätten einfließen sollen, blieben an der Sinfonie Aus der neuen Welt haften.
Fasst man alle amerikanischen Eindrücke Dvoraks zusammen, so kommt man nicht umhin, seine e-Moll-Sinfonie tatsächlich als „amerikanische Sinfonie“ anzusehen und nicht etwa als eine verkappte tschechische, die lange vor seinem USA-Aufenthalt schon entworfen gewesen sei, wie es tschechische Forscher des öfteren behaupteten. Dvorak selbst hat dies unzweideutig bestätigt: „Gerade jetzt beende ich eine neue Sinfonie. Sie bereitet mir viel Freude und wird sich von meinen früheren ganz wesentlich unterscheiden. Den Einfluss von Amerika muss ein jeder, der Gespür hat, herausfühlen…“
Hinweise auf das verborgene „Programm“ der vier Sätze hat Dvorak nur in knappen Andeutungen gegeben. Da er die ersten drei Sätze im Lauf von nur drei Januarwochen des Jahres 1893 in New York skizzierte, wirken sie besonders einheitlich. Schon im ersten Satz werden die Ergebnisse seiner Spiritual-Studien deutlich: vier Takte des Schlussthemas erinnern an Swing low, sweet chariot. Den Schlüssel zum Adagio und zum Scherzo liefert nach Dvoraks eigener Aussage das bereits erwähnte Indianerepos von Longfellow: „Der zweite Satz ist eine Art Adagio, das sich jedoch von der klassischen Form dieses Gebildes unterscheidet. Es ist in Wirklichkeit eine Studie oder eine Skizze zu einer längeren Komposition, entweder zu einer Kantate oder Oper, die ich nach Longfellows ‚Hiawatha‘ schreiben möchte… Das Scherzo meiner Sinfonie wurde von der Szene des indianischen Festes in Hiawatha inspiriert, in der die Indianer singen und tanzen. Ich wollte damit den indianischen nationalen Charakter mit musikalischen Mitteln zum Ausdruck bringen.“ Das Finale hat Dvorak erst nach einer längeren Pause im April 1893 skizziert, nachdem er beschlossen hatte, den Sommer mit seiner Famile in Iowa zu verbringen. Die Vorfreude auf einen „amerikanischen Sommer“ ist dem Satz anzuhören. (Karl Böhmer)