„Rhapsody in Blue“ Originalfassung für die Band von Paul Whitemann (1924)
Werkverzeichnisnummer: 3176
2003
GEORGE GERSHWIN
Rhapsody in Blue (1924)
„An Experiment in Modern Music“, ein „Experiment mit moderner Musik“ nannte der Bandleader Paul Whiteman ein Konzert, das er am 12. Februar 1924 in der Aeolian Hall in New York veranstaltete. Wäre man nach der Prominenz im Publikum gegangen – anwesend waren unter anderem die Komponisten Sergej Rachmaninoff und Ernest Bloch, der Geiger Fritz Kreisler und der Dirigent Leopold Stokowski -, man hätte auf ein klassisches Sinfoniekonzert mit modernen Werken schließen können. Stattdessen bekamen die erstaunten New Yorker die Uraufführung des ersten „Jazz-Klavierkonzerts“ der Geschichte zu hören: Rhapsody in Blue von George Gershwin.
Gershwin begann seine pianistische Ausbildung Jahrzehnte vor der Rhapsody auf kuriose Weise: Als Zehnjähriger ließ er bei einem Freund, der ein mechanisches Klavier besaß, eine der Klavierrollen langsam abspielen und setzte die Finger in die durch den Mechanismus heruntergedrückten Tasten. So lernte er einige populäre Songs, die er seinen völlig überraschten Eltern vorspielte, als sie für seinen Bruder Ira ein Klavier gekauft hatten.
Nach einer formellen Pianistenausbildung arbeitete er als Song Plugger in einem Musikverlag, wo er den Kunden neue Songs durch Demonstrationen am Klavier schmackhaft zu machen hatte. Dazu veränderte er die Noten durch „einige jener schrecklich schweren Tricks, die nur die besten beherrschten“, wie ein Kollege berichtete. Spuren dieses extravaganten Spiels verrät auch der Klavierpart der Rhapsody in Blue.
Als Paul Whiteman dem 25jährigen Gershwin den Auftrag zu diesem Klavierkonzert erteilte, war aus dem Song Plugger längst ein Song Composer geworden, der New York in seinen Bann zog. Noch 1924 sollte er am Broadway seinen Durchbruch mit dem Musical Lady, Be Good! erleben. Doch davor stand der Konzerttriumph mit Rhapsody in Blue.
Whitemans Band war eher Tanzmusik-Orchester denn Jazzband, und ihr Leiter hatte er sich in den Kopf gesetzt, ein seriöses „Jazz concert“ zu veranstalten, und zwar als Beitrag zu der Frage, was denn „Amerikanische Musik“ sei. Dabei ließ er schon im Januar 1924 in den Zeitungen durchblicken, dass Gershwin für diesen Abend an einem „Jazz concerto“ arbeite. Es war letztlich eine geniale Marketing-Idee des überzeugten Jazzers Whiteman, dem wir die Rhapsody in Blue verdanken.
Obwohl eigentlich mit einer neuen Broadway-Revue beschäftigt, nahm Gershwin den Auftrag an. Er fühlte, das dies sein „Start im Feld der ernsten Musik“ werden könnte. Eine Bahnfahrt von New York nach Boston gab ihm das Programm des Werkes ein: „Ich hörte es als eine Art musikalisches Kaleidoskop von Amerika – von unserem großen Schmelztiegel (our vast melting pot), von unserem unvergleichlichen nationalen „Pep“, unserem Blues, unserem Großstädter-Wahnsinn (our metropolitan madness).“
Manches an der „Madness“ der Musik war jedoch keineswegs Gershwins ureigenste Idee. Er selbst schrieb das Werk in einer Fassung für zwei Klaviere. Die Instrumentierung überließ er Whitemans Arrangeur Ferde Grofé. Dieser fertigte später (1926 und 1942) noch zwei weitere Orchestrierungen an, doch nur die ursprüngliche, die heute abend erklingt, wahrt den originalen Charakter von Whitemans Orchester: halb Tanzkapelle, halb Jazzband. Manche Details entstanden erst in den Proben wie das berühmte Glissando des Anfangs, das Whitemans Klarinettist Ross Gorman vorschlug. Auch die Anregung zum Titel kam von einem anderen: von Gershwins Bruder Ira. Dieser besuchte eine Ausstellung des Malers James McNeill Whistler, der seinen Bildern Titel wie Symphony in White oder Nocturne in Blue and Gold gab. Daraus kreierte Ira Rhapsody in Blue. Gershwins eigener Titel wäre American Rhapsody gewesen. Er wollte zeigen, dass er sein „Jazzkonzert“ als nationale Rhapsodie über Amerika verstand.
Karl Böhmer