„Bilder einer Ausstellung“, Kammermusikalische Fassung von Klaus Arp
Werkverzeichnisnummer: 3167
1. Promenade
2. Gnomus – Promenade
3. Das alte Schloss – Promenade
4. Tuilerien. Spielende Kinder im Streit
5. Bydlo – Promenade
6. Ballet der Kücklein in ihren Eierschalen
7. Samuel Goldenberg und Schmuyle – Promenade
8. Der Marktplatz von Limoges
9. Die Katakomben. Mit den Toten in der Sprache der Toten
10. Die Hütte der Baba-Yaga
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1. Das große Tor von Kiew
„Das mächtige Häuflein“ nannte der Kritiker Wladimir Stasow jene Gruppe junger Komponisten, die auf dem Höhepunkt der Romantik der russischen Musik eine neue nationale Ausrichtung gaben. Zwar waren die Charaktere ihrer fünf Mitglieder so unterschiedlich wie nur möglich – es waren César Cui, Mili Balakirew, Alexander Borodin, Nikolaj Rimsky-Korsakoff und Modest Mussorgsky -, doch in ihrem Streben nach monumentalen Bildern von russischer Größe und russischer Seele waren sie sich einig.
Nicht nur das große Orchester und die Ressourcen der „großen Oper“ wurden dafür herangezogen, sondern auch das Klavier. 1874 komponierte Mussorgsky seinen Klavierzyklus „Bilder einer Ausstellung“, der freilich nicht lange auf die Tastatur beschränkt bleiben sollte. Allzu wuchtig und orchestral erschienen schon den Zeitgenossen Stücke wie das „Große Tor von Kiew“. Diese Musik verlangte förmlich nach dem vollen Orchesterklang, den ihr Komponist selbst nicht mehr einrichtete. Es war Maurice Ravel, der den „Bildern“ 1922 ihre bis heute meist gespielte Orchesterfassung gab, doch es gibt auch andere. 1955 schuf der russische Komponist Sergej Gortschakow eine Neu-Orchestrierung, die Ravels französische Brillanz durch einen erdenschwer-russischen Charakter ersetzt. International bekannt wurde sie dank Sir Peter Ustinov, der seine Version der „Bilder“ – ein Gespräch zwischen Stasow und Mussorgsky in der Ausstellung – mit Gortschakows Fassung des Werkes verband.
Inspiriert wurde der Zyklus durch Aquarelle, Zeichnungen und Skizzen von Mussorgskys Malerfreund Victor Hartmann. Die beiden waren Seelenverwandte, denn auch Hartmanns Auge fiel – wie das Ohr des Komponisten – auf die Abgründe der menschlichen Psyche und die Nöte des russischen Volkes. Als Hartmann 1873 mit nur 39 Jahren starb, veranstaltete der eingangs erwähnte Kritiker Stasow eine Gedenkausstellung mit einer Auswahl seiner Werke. Sie inspirierte Mussorgsky zu seinem Klavierzyklus, dessen Idee so einfach wie einleuchtend ist: Eine Art „Ich-Erzähler“ streift durch die Galerie und betrachtet zehn Bilder in aller Ausführlichkeit. Sein Spaziergang wird in der „Promenade“ geschildert, dem Leitthema des Ganzen. Die berühmte Melodie beruht auf Formeln russischer Preislieder, wie sie auch in der Oper „Boris Godunow“ vorkommen. Sie kehrt nicht nach jedem Satz wieder, wird verändert, lässt den einen Satz bereits an-, den anderen noch nachklingen und wird im letzten Stück zur Apotheose geführt.
Die zehn Bilder der „Ausstellung“ sind:
1. „Der Zwerg“: Hartmanns Skizze eines unschuldigen Kinderspielzeugs genügte Mussorgsky, um daraus das dämonische Bild des unglücklichen, verachteten Zwergs zu machen, dessen grotesken Tanz aus Schellenklingeln und Bocksprüngen die Musik schildert.
2. „Das alte Schloss“: Für die meisten Zuhörer wird sich die wehmütige Melodie dieses Satzes automatisch mit dem Klang des Saxophons verbinden, den Ravel ihr gab. Mussorgsky hatten einen Troubadour vor Augen, der an den alten Mauern eines Schlosses sein vergebliches Liebeslied singt.
3. „Tuilerien. Spielende Kinder im Streit.“ Kinder spielen in jenem Pariser Park, der seit der Revolution das Tuilerien-Schloss vor dem Louvre ersetzt. Ohne Pause geht es in die Nummer 4.
4. „Bydlo“: Der schwere Ochsenkarren nach polnischer Art steht bei Mussorgsky als Symbol für die Unterdrückung des russischen Volkes.
5. „Ballett der Küchlein in ihren Eierschalen“: Dem quirligen Bild der Küken, die an ihren Schalen picken und mit einem ersten schüchternen Piepsen die Flügel regen, bleibt die Musik an Deutlichkeit nichts schuldig.
6. „Samuel Goldenberg und Schmuyle“: Das Gespräch zwischen dem reichen, unbarmherzigen Geldverleiher und dem armen jüdischen Bauern, der ihn um einen letzten Aufschub bittet, endet mit einem überdeutlichen, kalten „Nein“.
7. „Der Marktplatz in Limoges“: Eine weitere Skizze von Hartmanns Frankreichreise – keifende Marktweiber, die ihrem Mundwerk freien Lauf lassen. Es folgt ohne Pause:
8. „Catacombae. Sepulcrum Romanum“: Aus der eigenen Anschauung der Pariser Katakomben an der Seite Hartmanns entwickelte Mussorgsky dieses Bild des kalten, grausamen Todes. Der Mittelteil taucht die Melodie der „Promenade“ in das fahle Licht der Tonart h-Moll und flirrender Tremoli. „Con mortuis in lingua mortua“ – „Mit den Toten in der Totensprache“ ist dieser Abschnitt überschrieben.
9. „Die Hütte der Baba-Yaga“: Die Hartmann-Skizze eines typischen russischen Hexenhauses mit Ziffernblatt und Hühnerfüßen war die Vorlage für dieses diabolische Bild aus den Märchenerzählungen des alten Russland. Der „Diabolus in musica“, der teuflische Tritonus, tut hier seine Wirkung.
10. „Das große Tor von Kiew“: Eine monumentale Verherrlichung russischer Geschichte und nationaler Größe, inspiriert von Hartmanns Skizze eines „Heldentors in der Thronstadt Kiew“.