Englische Suite Nr. 6 d-Moll, BWV 811
Werkverzeichnisnummer: 3094
1. Prélude (Adagio) – Allegro
2. Allemande
3. Courante
4. Sarabande – Double
5. Gavotte I/II
6. Gigue
2003
JOHANN SEBASTIAN BACH
6. Englische Suite d-Moll
Unter den 18 großen Klaviersuiten Bachs – den 6 Französischen, den 6 Englischen und den 6 Partiten – zählen nur wenige zu den Lieblingssuiten der Pianisten. Die 6. Englische Suite gehört dazu. Mit dem typisch bachischen Ernst ihres d-Moll, dem Wechsel zwischen schermütig-glüblerischen und spilerisch-brillanten Sätzen, mit einigen klanglich besonders reizvollen Stellen und dem spezifischen Gewicht von Einleitung und Finale erfüllt sie alle Anforderungen, die Pianisten an ein Konzertstück stellen mögen. Was den Klang betrifft, erscheint der Schritt vom Cembalo zum Steinway hier kleiner als bei manch anderer Suite, wie ja insgesamt Bachs d-Moll-Werke dank ihrer tiefen Lage seit Mendelssohn zu Lieblingsstücken der Pianisten avancierten (Chromatische Fantasie, d-Moll-Konzert, Klavierbearbeitungen der Chaconne). Wenn Martin Stadtfeld, der Leipziger Bachpreisträger des Jahres 2002, die 6. Englische Suite spielt, stellt er sich also in eine Reihe großer Vorbilder, die 1952 mit Walter Giesekings legendärer Einspielung begann.
Schon Bach selbst dürfte diese Suite als Konzertstück zum eigenen Gebrauch geschrieben haben. Während wir für die Französischen Suiten dank der autographen Handschrift über die originale Funktion unterrichtet sind – Bach schrieb sie als Hausmusik für seine zweite Frau Anna Magdalena -, wissen wir über die Entstehungsgeschichte der sechs Englischen Suiten relativ wenig. Das Autograph ist verloren, die frühesten Abschriften deuten in die letzten Weimarer Jahre Bachs, 1716/17. Es war jene Zeit, in der der Weimarer Hoforganist und Konzertmeister seinen Ruf als bester Cembalist Deutschlands ausbaute. Spätestens, seit er 1717 den Franzosen Marchand beim berühmten Dresdner Wettstreit in die Flucht geschlagen hatte, konnte Bach diesen Titel für sich reklamieren. In Berlin, wo er 1718 ein neues, großes Cembalo für den Köthener Hof kaufte, hat er ebenso mit cembalistischen Auftritten geglänzt wie an den Höfen von Gotha und Anhalt-Zerbst. Für diese Gastspiele dürfte Bach seine Englischen Suiten geschrieben haben: als die bis dahin umfangreichsten und virtuosesten Cembalosuiten deutscher Prägung.
Hört man die d-Moll-Suite vor diesem Hintergrund – als Visitenkarte des Virtuosen Bach -, so wird die Unvergleichlichkeit seines Spiels und Stils deutlich. Virtuosität war bei ihm nie Selbstzweck, sondern eingebettet in konsequente Verarbeitung des musikalischen Materials und in tiefschürfende Ausdeutung der Affekte. Das Prélude – mit fast 200 Takten das längste Klavierpräludium, das Bach geschrieben hat – ist eine große Ausdeutung des Affekts der Tonart d-Moll. Es beginnt beinahe wie eine Improvisation, im Duktus der Préludes non mésurés, der „nicht an den Takt gebundenen Präludien“, wie sie Marchand und seine französischen Kollegen zu Beginn ihrer Suiten verwendeten. Bei Bach hat sich die Akkordbrechung schon nach zwei Takten zum Motiv verdichtet, das Abtasten der Akkorde zu einer Reise durch die Schattenseiten der Tonart, die durch verminderte Dreiklänge und dissonante Vorhalte suggestiv beschworen wird. Während die langsame Einleitung so die melancholische Seite der Tonart auskostet, entlädt sich im folgenden schnellen Teil die konzertante Brillanz und unbändige Energie, die Bach etwa auch im d-Moll-Cembalokonzert oder in der Dorischen Toccata aus der Tonart ableitete. Das riesige, 130 Takte lange Fugato ist nach italienischer Konzertmanier fünfteilig gegliedert: Die Fuge kehrt als Ritornell zweimal wieder, zweimal unterbrochen von gesanglichenEpisoden. Dadurch und durch die schier endlosen harmonischen Steigerungen, die sich aus den Laufkaskaden des Themas ergeben, ist der monumentale Bau dieses Präludiums gegliedert.
Der Aufbau der Tanzfolge orientierts ich wie immer bei Bach an den vier klassischen Suitensätzen Allemande, Courante, Sarabande und Gigue.