“Sechs Metamorphosen nach Ovid” für Oboe solo
Werkverzeichnisnummer: 3088
1. Pan
2. Phaeton
3. Niobe
4. Bacchus
5. Narcissus
6. Arethusa
2002
BENJAMIN BRITTEN
Sechs Metamorphosen nach Ovid
Versetzen Sie sich im Geiste in eine kleine Stadt an der englischen Küste in der Grafschaft Suffolk. Wir schreiben das Jahr 195 1, wo sich seit drei Jahren jeden Sommer Musiker und Publikum zu einem Festival versammeln, das der Komponist Benjamin Britten in seinem Wohnort ins Leben rief, um abseits der großen Zentren mit modernen Konzert- und Opernkonzepten experimentieren zu können. Kein Besucher des 4. Aldeburgh Festivals von 1951 dürfte geahnt haben, welche Schätze der musikalischen Welt hier in den kommenden 25 Jahren offenbart werden, welche Interpreten von Weltruf sich um Britten versammeln würden.
“Alternative Konzepte” bedeutete für Britten auch Experimente mit dem Spielort. Am 14. Juni 1951 begaben sich die Konzertbesucher in Aldeburgh allesamt auf Boote, um einem Vortrag des Oboisten Joy Boughton auf dem Wasser zu lauschen. Er spielte sechs Solostücke nach den Metamorphosen des Ovid, die Britten eigens für diese Gelegenheit komponiert hatte. Der Zyklus beginnt mit der mythologischen Geschichte von Pan, der vergeblich der Nymphe Syrinx nachstellte. Sie rief die Götter an, die sie in Schilfrohr verwandelten, bevor Pan sie packen konnte. Dem Gott blieb nichts anderes übrig, als sich aus dem Rohr des Schilfs ein Instrument zu bauen, die Panflöte oder Syrinx, und auf ihr der verschwundenen Frau nachzutrauern. Schon Claude Debussy hatte sich von dieser Geschichte zur Syrinx für Flöte solo inspirieren lassen. Britten wählte die Oboe, um den Charakter des Schilfrohrs zu betonen. Mit der Aufführung auf dem Wasser, im Ambiente der mythologischen Geschichte also, schuf er eine Art szenischer Instrumentalmusik in der Natur. In dieser Weise muss man den ganzen Zyklus von sechs Solostücken verstehen.
Natürlich sind die Metamorphosen des römischen Dichters Ovid jedem Gebildeten als Quelle der antiken Mythologie vertraut. Dennoch rechnete schon Britten nicht damit, dass alle sechs Episoden, die er ausgewählt hatte, ohne weiteres verständlich seien. Deshalb fügte er jedem Stück einen längeren Titel hinzu. Mit kurzen musikalischen Hinweisen versehen, mögen sie als Erläuterung der sechs Sätze hinreichen:
1. Pan, der auf dem Schilfrohr spielt, welches Syrinx, seine Angebetete, war. Solo in der pastoralen Tonart A-Dur und in impressionistischem Tonfall. Tonrepretitionen unterstreichen den Rohrblattklang der Oboe.
2. Phaeton, der mit dem Sonnenwagen zur Sonne fuhr und von einem Blitz in den Fluss Padus geschleudert wurde. Gebrochene Dreiklänge verdeutlichen die Fahrt des Helden zur Sonne und seinen Sturz.
3. Niobe, die um ihre 14 Kinder trauerte und in einen Berg verwandelt wurde. Großer Klagegesang in opernhaftem Stil, an dessen Ende ein Arpeggio in Des-Dur die Metamorphose zeigt.
4. Bacchus, bei dessen Festen man die Weiber tratschen und die Knaben jauchzen hört. Das Jauchzen der Knaben zeigt sich im plötzlichen Abreißen der Bewegung, das Tratschen der Frauen in kreisenden Figuren.
5. Narcissus, der sich in sein eigenes Spiegelbild verliebte und zur Blume wurde. Musikalisch bedeutet Spiegel Umkehrung, und so spiegeln sich alle Motive dieses Satzes in ihrer Umkehrung wider. Am Ende verwandelt sich der Grundgedanke in reines C-Dur – so wie sich Narcissus in die wunderschöne Narzisse verwandelte.
6. Arethusa, die auf der Flucht vor dem Flussgott Alpheus zur Quelle wurde. Der Britten-Biograph Peter Evans meinte zu diesem Finale ironisch, die Oboe sei kein besonders “flüssiges Instrument”, weshalb der Versuch, sie für Wasserspiele einzusetzen, leicht scheitern könne. “Brittens Quelle in Arethusa fließt fast träge dahin, doch wir können dafür umso besser jede Variation des Grundmusters in diesem Satz beobachten. “ (Evans)