„Endechas Para und Reina de Espana“ (Trauergedichte für eine Königin von Spanien), 1994
Werkverzeichnisnummer: 3087
Encheda I: „El Sueno de la Razón“ (Trauergedicht I: Der Traum der Vernunft)
Endecha II: „Las Tinieblas de la Consciencia“
(Trauergedicht II: Die Finsternis des Bewußtseins)
Endecha III: „El Vacio de la Mente“
(
2002
CRISTOBÀL HALFFTER
Trauergedichte auf eine spanische Königin
Man stelle sich vor, in 400 Jahren erhielte ein Komponist den Auftrag, die historische Tat der EU-Ost-Erweiterung in einem Musikstück zu ehren. Vor ein ähnliches Problem wurde 1994 der spanische Komponist Cristobàl Halffter gestellt. Damals jährte sich zum 500. Mal der Vertrag von Tordesillas, in dem Spanien und Portugal die Aufteilung der Neuen Welt beschlossen. Zu diesem Anlass schrieb Halffter sein Streichsextett Trauergedichte für eine spanische Königin.
370 spanische Meilen westlich der Azoren verlief die Grenzlinie, die Papst Alexander VI. Borgia willkürlich zur Aufteilung der gerade erst entdeckten Neuen Welt über den Globus zog. Alle Gebiete westlich der Linie sollten Spanien gehören, alle östlich den Portugiesen. Dies stand schon fest, bevor Columbus zu seiner zweiten Amerikareise in See stach. 1494 besiegelten die iberischen Majestäten im Vertrag von Tordesillas diese Machtverteilung, die 400 Jahre spanischer Herrschaft über Südamerika begründen sollte.
Christobàl Halffter wurde schnell klar, dass ein politisches Geschäft solcher Größenordnung nie und nimmer Gegenstand eines Musikstücks sein könne. Also wandte er sich einer Gestalt aus der spanischen Geschichte zu, die mit dem Ort des Vertragsschlusses, Tordesillas, untrennbar verknüpft ist: Johanna der Wahnsinnigen. In der tragischen Lebensgeschichte dieser Königin, die die Mutter Kaiser Karls V. war, spiegelt sich die grausame politische Realität der frühen Neuzeit ebenso wider wie im Vertrag von Tordesillas. Insofern ist Halffters gewalttätige Musik auch der Spiegel eines grausamen Zeitalters.
„Juana la Loca“, wie die Spanier Königin Johanna nennen, regierte nur für kurze Zeit ab 1504 und verbrachte danach die letzten 40 Jahre ihres Lebens als Gefangene im Kloster Santa Clara in Torde-sillas – angeblich in geistiger Umnachtung. Cristobàl Halffter glaubt nicht an diese Geschichte, sondern sieht die Königin als Opfer einer politischen Intrige. Ihr eigener Vater Ferdinand der Katholische, der Auftraggeber des Columbus, versuchte, sie von der Macht fernzuhalten. Dass sie psychisch labil war, kam ihm zu Hilfe. Ihr Gatte, Philipp der Schöne von Burgund, und ihr Sohn Karl setzten die Gefangenschaft in die Tat um, und selbst ihr Enkel Philipp II. hob das strenge Exil nicht auf, bis die Königin 1555 in Tordesillas starb.
Die Gestalt der halb vernünftigen, halb umnachteten Königin inspirierte Halffter zu einer Musik von zeitgenössisch dissonanter Rhetorik. Leitmotivisch kehrt die wahnsinnige Musik der Wahnsinnigen im Laufe des dreisätzigen Werkes immer wieder. Wir hören nur den ersten Satz, in dem dieses Material gleich zu Beginnerklingt. Halffter nannte diesen Anfang „den Traum der Vernunft“ (El sueño de la razón). Es handelt sich um ein Klang-Konglomerat von chaotischem Zuschnitt, in dem jedes Instrument unabhängig von den anderen zu agieren scheint.
Was Halffter vorschwebte, war eine Parallele zwischen musikalischer Faktur und psychischem Zustand, so als ob die Streicher die labile Geistesverfassung der Königin reflektierten. Daraus erklärt sich die nervöse Spannung zwischen den Instrumenten und ihre instabile Motivik – sie scheinen psychisch gefährdet wie die Königin selbst.