Partia Nr. 1 d-Moll aus Harmonia Artificioso-Ariosa In septem Partes vel Partias distributa
Werkverzeichnisnummer: 3084
1. Sonata. Adagio – Presto – Adagio
2. Allemande
3. Gigue – Variatio I & II
4. Aria
5. Sarabande – Variatio I & II – Finale. Presto
2002
H.I.F. BIBER
Harmonia artficioso-ariosa
Wenn ein Komponist Anspruch darauf hätte, der „Corelli Deutschlands“ genannt zu werden, dann Biber. Kein anderer Geiger nördlich der Alpen hat so systematisch das Areal barocken Violinspiels durchforstet, kein zweiter hat so viel für die Etablierung der Violinsonate und der Triosonate getan wie er. Eigentlich war es ein Zufall, dass der Sohn eines gräflich-liechtensteinischen Jägermeisters aus Wartenberg in Böhmen später bei einem Grafen jenes Geschlechts seine Karriere begann. Der musikliebende Karl von Liechtenstein-Kastelkorn, Bischof von Olmütz, berief den jungen Geiger als Kammerdiener in sein noch heute beeindruckendes Schloss nach Kremsier. Dort begann eine der glänzendsten Musikerkarrieren des Barock vom Lakaien zum adligen Truchsess.
Bibers Virtuosität als Geiger und sein Einfallsreichtum als Komponist wurden von den Höchsten goutiert: von Kaiser Leopold I., vom bayerischen Kurfürsten Ferdinand Maria und von zwei Salzburger Erzbischöfen, Max Gandolf von Kuenburg und Johann Ernst Graf von Thun. Letzterem dedizierte Biber seine Harmonia artificioso-ariosa, die 1696 in Salzburg mit einer lateinischen Widmungsvorrede an den Erzbischof erschien.
Die hohen Herren überschütteten den böhmischen Jägersohn mit Gnadengeschenken, bezahlten ihm die höchsten Gehälter und gewährten ihm seltene Ehren. In Salzburg war er seit 1678 Vize-, ab 1684 Hofkapellmeister und wurde 1692 zum Truchsess erhoben – eines der höchsten Ehrenämter bei Hofe. Der Kaiser verlieh ihm 1690 das Adelspatent – mit Zuerkennung von vier (fiktiven) adligen Ahnen. Fortan wurde sein Name noch komplizierter – Heinrich Ignaz Franz Biber von Bibern -, seine Musik aber stets moderner und einfallsreicher. Bibers Erfindungsgabe dokumentiert sich in Genrestücken wie der Battaglia oder Pauern-Kirchfahrth, in höfischen Zyklen wie der Mensa sonora oder den Rosenkranzsonaten, sie erfasste aber auch die großen Formen der geistlichen Musik und sogar die Oper. Mit einem Wort: er war ein wahrhaft barocker Genius.
Kein Interpret der Gegenwart hat diese Bedeutung von Biber klarer erkannt als Reinhard Goebel. Seine Aufnahmen der Mensa sonora, der Battaglia und der Missa Salisburgenis sind Meilensteine der historischen Aufführungspraxis. Auch in seinen Werk-Einführungen – kleinen Meisterstücken des Feuilletons wie die eines Nikolaus Harnoncourt -, hat sich der Siegener Geiger und Dirigent immer wieder dezidiert für die Kunst Bibers eingesetzt. Für unser Programm griff er erneut zum Labtop und fasste seine Sicht der Harmonia artificioso-ariosa zusammen. Leider erlaubt der begrenzte Umfang dieses Programmhefts nicht den vollständigen Abdruck des Textes. Wir haben ihn deshalb – für Kenner und Liebhaber – auf separaten Blättern ausgedruckt. Hier seien nur jene Passagen zitiert, die sich mit dem Problem der Skordatur beschäftigen:
„Bibers Suiten-Zyklus Harmonia artificioso-ariosa führt in beispielhafter Weise das Experiment der großartigen, bereits zwanzig Jahre zuvor entstandenen Rosenkranz-Sonaten weiter, nämlich: die Vereinigung von Tonart, Klangfarbe und Affekt durch die Skordatur.
Der Terminus „Skordatur“ – letztlich der Befehl „es wird gestimmt“ – bezeichnet in der Musik für Streicher die Veränderung der normalen Quint-Intervall-Abstände der Saiten zueinander. Wie beim englischen „the lyra-way“-Umstimmen der Viola da gamba wurden im Lauf einer kurzen Periode etwa zwischen 1650 und 1700 auch für die vorzugsweise höheren Lagen der Violin-Instrumente mehr als 30 verschiedene Stimmungen erdacht.
Manche von ihnen sind grotesk und kaum ernst zu nehmen, andere – wie die meisten der von Biber „kreierten“, zu denen auch die Umlegung der beiden mittleren Violinsaiten gehört – sind höchst seriös und stellen eine Bereicherung des Farb- und Ausdrucks-Spektrum dar.
Eine gute Skordatur verstärkt den Affekt der Grund-Tonart, sie ist meist so gewählt, dass Grundton und Quint der Tonart leere, ungegriffene Saiten und Doppelgriffe in dieser Tonart bewundernswert leicht zu spielen sind – immer aber hat sie den Nachteil, dass Modulationen in auch nahe verwandte Tonarten kaum oder nur sehr schwer realisierbar sind.
Bei allem Respekt für die klangliche Bereicherung durch die Skordatur ist klar, dass sie einen wesentlichen Aspekt der in Quinten gestimmten Violin-Instrumente, nämlich ihre universelle Handhabung in vielen, wenn nicht allen Tonarten, verleugnet. Der Tanz mit seiner allfälligen Modulation zur Dominante am Doppelstrich ist somit das geeignetste Medium für die Skordatur – veritable Sonaten mit weitschweifigem Harmonie-Plan (Gott sei dank hat niemand solche je komponiert!) wären eine veritable Tortur.
Wir wissen heute nichts über die Realitäten des Skordatur-Betriebs – kein Wort darüber in den zeitgenössischen Quellen. Wurden speziell präparierte Instrumente verwendet? Denn ein ad-hoc verursacht immer ein „Rutschen“, ein Sich-Verstimmen der lebhaften Darmsaiten in die vorherige Stimmung, sowohl nach unten als nach oben. Wurden gar spezielle Saiten-Bezüge verwandt? Denn das Hoch-Stimmen der einen und das Herunterstimmen der anderen Saite(n) veränderte die Mikro-Organisation der Quinten-gewöhnten Griffhand doch erheblich. Hat man gar auf solche Details gar nicht geachtet, sondern sich nur eines erheblich volleren (vermutlich also auch erheblich unsauberen) Klangs erfreut? nescimus!“
Unter den von Goebel geschilderten Voraussetzungen – Tanzsätze mit einfachem harmonischem Bau, Klangfülle und spieltechnische Beschränkungen – legte Biber seine Partien als kunstvoll-barocke Gebilde an:
Partia I (Stimmung: a-e‘-a‘-d‘‚): Dunkle Akkorde der Geigen führen in die eigenwillige Klangwelt der Skordatur und in den Charakter der Tonart d-Moll ein; toccatenartig schließen sich virtuose Passagen und eine kurze Canzona an. Wie in fast allen Teilen des Zyklus gibt es einen Hauptsatz in Variationenform: die zentrale Gigue. Um sie gruppieren sich symmetrisch Sonata und Allemande sowie Aria und Sarabande, letztere ebenfalls mit Variationen, die in ein kurzes Finale münden.
Partia III (Stimmung: a-e‘-a‘-e‘‚): Der Klangeindruck ist im Gegensatz zur ersten Partia hell und strahlend. Das Präludium häuft im Sinne eines rhetorischen Pleonasmus simple A-Dur-Akkorde, um den Reiz der Skordatur in schon fast unverschämter Weise hervorzukehren. Erst danach verzweigen sich Rhythmus und Ornament: schreitend in der Allemande, synkopisch schwingend im Presto (dessen Titel Amener eine Variante der Branle bezeichnet), leichtfüßig im Balletto und etwas leirig in der Gigue. In allen Sätzen folgen die Violinstimmen einander in kleinen Kanons, so dass man wie in einem Spiegelkabinett den gleichen Skalen und Motiven immer wieder begegnet. Dieses Verfahren gipfelt in der abschließenden Ciacona, in der die beiden Oberstimmen konsequent im Kanon im Einklang geführt sind. Der Satz – Bibers Antwort auf den Kanon von Pachelbel – beruht auf dem gleichen Bassthema, dem wir zu Beginn bei Caldara begegnet sind. Biber hat ihn primitiver behandelt als sein italienischer Kollege, indem der Bass die Grundtonart über fast vier Minuten festhält.
Dieser immer gleiche Bass verleiht dem Satz andererseits jenen mitreißenden Zug, der so viele Ostinatovariationen des 17. Jahrhunderts auszeichnet. Unser ganzes Programm könnte man eine Apotheose der barocken Variation nennen, enthält es doch nicht weniger als drei Chaconnes, zwei Passacaglie und drei tänzerische Arien mit Variationen.
Bauernkirchfahrt
Der Fürstbischof von Olmütz, Karl von Liechtenstein-Kastelkorn, war ein Barockpotentat auf der Höhe der Zeit, wovon noch heute sein riesiges Residenzschloss in Kremsier lebhaft Zeugnis ablegt. Im Fasching füllten sich die Hallen dieses mährischen Versailles mit Tänzern, die sich die Musik zu ihrem Vergnügen aus Wien kommen ließen. Regelmäßig verlangte der Fürst nach Abschriften der Ballette aus den großen Wiener Hofopern und anderer Tanzmusik vom Kaiserhof, nach „allerhand schönen Arien zum Tanzen, deren man sich insonderheit in der Fasching gebraucht“.
Obwohl der Fasching damals offenbar weiblich war, war die Musik seiner Tänze in Kremsier durchaus männlich. Komponiert hat sie ein junger Geiger in den Diensten des Bischofs, nachdem dieser von den umständlichen Verhandlungen mit dem Wiener Hofkomponisten Schmelzer genug hatte. So schlug die Stunde des Heinrich Biber, der fortan bis ins Jahr 1673 hinein seinen Dienstherrn mit „schönen Arien zum Tanzen“ erfreute. Er kleidete sie ein ins Gewand musikalischer Genremalerei.
Bibers Erfindungsgabe dokumentiert sich bis heute am eindrucksvollsten in seinen Kremsierer Genrestücken „Battaglia“ und „Pauern-Kirchfahrth“. Darin fing der Sohn eines gräflich-liechtensteinischen Jägermeisters aus Wartenberg in Böhmen so manches ein, was er in seiner Jugend am einfachen Volk – Bauern und Kriegsvolk – hatte beobachten können. Erst später stieg er im Dienst seines Bischofs und zweier Salzburger Erzbischöfe selbst in Adelsränge auf und entfernte sich peu à peu von den Niederungen des einfachen Volks. Die hohen Herren der Zeit überschütteten den böhmischen Jägersohn mit Gnadengeschenken, bezahlten ihm die höchsten Gehälter und gewährten ihm seltene Ehren. Kaiser Leopold I. verlieh ihm 1690 das Adelspatent – mit Zuerkennung von vier fiktiven adligen Ahnen. Fortan wurde sein Name kompliziert – Heinrich Ignaz Franz Biber von Bibern -, und seine Musik immer kunstvoller und edler.
Davon kann bei den Kremsierer Faschingsmusiken noch keine Rede sein. Über diese Musik durfte nach Herzenlust gelacht werden, wobei sie auf geschickte Weise moderne italienische Violinmusik zum puren Zuhören, Genremalerei zum Schmunzeln und „Arien“ zum Tanzen miteinander verbanden. Die „Sonata a 6 Pauern-Kirchfahrt genannt“ beginnt mit einer italienischen Sonate aus einem Adagio und einem Presto, ganz nach der neuesten Mode in Bologna und Rom. Danach ziehen die bäuerlichen Wallfahrer auf. Einer singt vor, die anderen stimmen ein, immer wieder und wieder das „Benedicamus“ vortragend. Der lange Zug schleppt sich den steilen Berg zur Wallfahrtskirche hinan, während die adligen Herrschaften in ihren bequemen Kutschen längst oben angekommen sind und dem Gesang lauschen. Denn wie heißt es so schön in einem zeitgenössischen Gedicht? „Vor Zeiten war der Weg zum Himmel schmal und schwer, als unsere Väter noch zum Gotteshause gingen; doch itzt ist er gebahnt, man fährt auf Polstern her, und lässt sich mit Plaisir zum Himmelreiche bringen.“ Plaisir beschließt auch die Wallfahrt, für hohe Herren und kleine Leut: ein Tanz, ganz nach Bauernart, mit kräftigen Akzenten. Spätestens jetzt erhoben sich der Bischof und seine Gäste von ihren Plätzen und schwangen das Tanzbein höchstderoselbst.
Battaglia
Im notorisch von Kriegen durchfurchten 17. Jahrhundert lag es nahe, auch dem Kriegsvolk ein klingendes Denkmal zu setzen, zumal es sich damals noch weitaus musikalischer gab als heutzutage. Wollten die Musketiere Musik haben, so mussten sie sie selbst machen, singend oder auf Militärinstrumenten spielend. Auf drei Geigen, vier Bratschen, Celli, Violone und Cembalo fing Biber genial die Klangkulisse eines Heers seiner Zeit ein: vor der Schlacht, in derselben und danach. Anfangs geht’s noch lustig zu, wie die Sonata verkündet. Nach ihren Fanfarenklängen stimmt jeder der Musketiere ein Lied aus seiner Heimat an: ein Quodlibet. Leider hat diese „Liederliche Gesellschaft von allerley Humor“ schon ziemlich tief ins Glas geschaut und ist sich der Tonarten nicht mehr sicher: alle Töne gehen hier durcheinander und wir bekommen einige der ersten Cluster der Musikgeschichte zu hören.
Nach einem kurzen tänzerischen Presto tritt der Kriegsgott Mars in Persona auf. Eigentlich ist es ein Landsknecht der mit der einen Hand seine Trommel und mit der anderen eine Einhandflöte betätigt, hier dargestellt mit Violine und Bass. Auf diese Kriegsmusik hin versammeln sich die Truppen, zunächst im tänzerischen Galopp die Kavallerie, dann in einer Aria die Infanterie, schön geordnet in Reih und Glied, doch etwas zu galant für grobe Musketiere.
Endlich kommt es zur Schlacht: Man hört das Knallen der langen Büchsen des 17. Jahrhunderts, wohl auch der ein oder anderen Kanone, untermalt vom Tremolo des kriegerischen Furors, mit dem die feindlichen Heere aufeinander losgehen. Am Ende des Schlachtengemälde steht nicht etwa der Jubel der Sieger, sondern das „Lamento der verwundeten Musketier“. Wie oft mag der Jägersohn Biber in seiner Jugend die Klagelaute sterbender Soldaten auf böhmischen Schlachtfeldern selbst mit angehört haben?