Liebeslieder, op. 19
Werkverzeichnisnummer: 3075
5. An eine Aeolsharfe, op. 19,5: „Angelehnt an die Efeuwand“
2002
JOHANNES BRAHMS
Fünf Lieder
Mit nichts konnte man Brahms mehr erzürnen, als wenn man sich jugendlich begeistert und ohne viele Skrupel an den großen Namen der deutschen Dichtung kompositorisch vergriff. Einen Faust zu vertonen, war ihm der blanke Horror, die große Lyrik eines Goethe, Heine oder Eichendorff gleich bändeweise wegzuschreiben, wie es der junge Hugo Wolf tat, ein Frevel und eine überflüssige Übung zugleich. In seinen eigenen Liedern suchte Brahms nach Dichtung von geringerem Anspruch, oft aus seiner unmittelbaren, privaten Umgebung, um Dinge auszusprechen, die ihn persönlich berührten, oder um lakonisch Wahrheiten zu sagen, die nicht bereits auf dichterischer Ebene ein vollendetes Werk bildeten.
Dieser oft beschriebene Umstand gibt auch der kleinen Braumsauswahl in diesem Programm ihren Sinn. Nur Mörikes An eine Aeolsharfe, vom 25jährigen Brahms als Beschwörung der eigenen kompositorischen Kunst vertont, beruht auf einem großen deutschen Gedicht. Die Texte der anderen vier Lieder erklären sich aus der Biographie des Komponisten und aus seiner Ästhetik.
Auf dem See wurde auch an einem See komponiert. Zur Sommerfrische des Jahres 1873 hatte sich Brahms in Tutzing am Starnberger See eingefunden. Wie immer, wenn ihn die idyllische Natur eines Sommeraufenthalts in ihren Bann zog, reagierte er musikalisch: mit einem seiner schönsten und populärsten Liedopera, dem Opus 59. Es ist durch die beiden Regenlieder nach Klaus Groth bekannt geworden, doch verdienen auch die ersten beiden Stücke als Naturschilderungen Beachtung: Goethes Dämmrung senkte sich von oben und Simrocks Auf dem See. Seit seinen Jugendtagen benutzte Brahms die Volksliedersammlung des Dichters Karl Simrock oft und gerne. Aus seinem 1844 erschienenen Gedichtband hat Brahms zwei Texte vertont.
Wie Simrock gehört auch Georg Friedrich Daumer zu den heute kaum noch gelesenen Zeitgenossen von Brahms, deren Gedichte der Meister für Lieder benutzte. Daumer war durch seine Frauenbilder und Huldigungen als Skandalautor erotisch freizügiger Lyrik verschrien, doch Brahms fand in ihm zwei Aspekte vereint, die ihn nachhaltig faszinierten: den Versuch, die Poesie aller Völker in deutschen Übersetzungen zugänglich zu machen, und eine Fähigkeit, in diesen Sammlungen von „poetischen Zugaben aus verschiedenen Völkern“ Liebeslyrik von ursprünglicher Kraft aufzuspüren. 1864 vertonte Brahms in Baden-Baden vier von Daumer übersetzte Liebesgedichte aus dem Mährischen und dem Persischen, die er seinem Opus 32 einverleibte. Das mährische Gedicht Nicht mehr zu dir zu gehen beschreibt in kaum zu überbietender Präzision die Verzweiflung eines Liebhabers, der sich von seiner Leidenschaft nicht lösen, den Bruch nicht erzwingen kann. Mit der gleichen Präzision wie die Verse zeichnet Brahms diesen psychologischen Zustand nach: die völlige Erschöpfung eines kraftlos Gewordenen, der sich vom Bass des Klaviers fatalastisch an die Hand nehmen lässt und nur noch in Seufzern spricht. Vielleicht fand Brahms in dem Gedicht die genaue Beschreibung dessen, was er zehn Jahre zuvor in seiner Leidenschaft für Clara Schumann durchlebt hatte.
Von ganz anderem, schwärmerischem Ausdruck ist das Schlusslied der Sammlung: Wie bist du, meine Königin, durch sanfte Güte wonnevoll nach einem persischen Gedicht. Eine Es-Dur-Melodie des Klaviers gibt den ländlerhaft seligen Duktus vor, in den die Singstimme eintaucht. Die berüchtigten Verstöße gegen die korrekte deutsche Deklamation, die Brahms sich in diesem Lied leistete, nahm er zugunsten der melodischen Rundung in Kauf. In frei variativer Form werden die vier Strophen so behandelt, dass stets das abschließende Wort „wonnevoll“ in neuem Licht erscheint – ein Kunstwerk an formaler Vollendung. Das Lied bestätigt, was Werner Oehlmann über Brahms‘ Liedkunst ingesamt schrieb: „Über allem steht die feste musikalische Form. Brahmssche Lieder sind keine vagen Gefühlsergüsse, sondern tönende Konstruktionen, die eine Fülle autonomer Musik einschließen.“
Manchmal verhalf Brahms in seiner Neigung zum poetisch Marginalen und Randständigen auch Gelegenheitsdichtern zum Nachruhm. Ein solcher war Robert Schumanns jüngster Sohn Felix, Brahms‘ Patenkind. Die Krankheitsgeschichte des zarten Jungen bis zum tragischen frühen Tod 1879 hat der Komponist in mehreren Stücken reflektiert. Dazu gehören auch seine vier Lieder nach Texten von Felix Schumann. Das erste, Meine Liebe ist grün, entstand als Weihnachtsgeschenk für Felix‘ Mutter Clara und seine Schwestern 1873. Sie überraschten ihrerseits den 19jährigen Dichter mit dem Lied, das es Clara Schumann besonders angetan hatte: „Und wie schön ist das Lied und das Nachspiel – das allein könnte ich mir schon immer spielen.“